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Gute Kunst - wer sie betrachtet, wird sich verlieren. So geht der Fluch, aber ob er böse ist, weiss ich nicht. Es ist ein Vorgang, den wir gemeinhin mit verlieben umschreiben. Wenn uns eine Person oder ihr Werk anzieht bis zur Schlaflosigkeit, ohne dass wir genau benennen könnten, worin diese Anziehung besteht. Wenn unser Herz etwas zu heftig schlägt, bevor wir alles über jemanden wissen, bevor sich unsere Erwartungen bestätigen. Wenn uns der Atem stockt und wir aus jeder Bewegung eine tiefere Bedeutung lesen. Was für Aussenstehende etwas dumm wirken kann, bietet uns doch die einzigartige Gelegenheit, den Verstand zu verlieren, uns zu nähern, ein Verhältnis zu schaffen, das in seiner Intimität eigentlich übertrieben ist und absurd und doch die grossartige Möglichkeit birgt, Nähe und Liebe zu erfahren, die Grenze der eigenen Person zu überschreiten und das Du wichtiger zu nehmen als das Selbst. In der Literatur findet sich die vielleicht eindrücklichste Beschreibung dieses kopflosen Liebeszustands bei E.T.A. Hoffmann. In «Der Sandmann» 1 verliebt sich der Held, Nathanael, in die entrückte Schönheit Olimpia, die tatsächlich keine Frau, sondern eine Puppe ist - was Nathanael aber nicht erkennt. Seine Liebesworte erwidert Olimpia mit Augenblinzeln, denn die einzigen Wörter, die die Puppe zu sprechen vermag, sind «Ach!» und «Gute Nacht, mein Lieber». Noch nie hatte sich Nathanael so verstanden gefühlt. «Der Sandmann» gehört in der deutschen Literaturwissenschaft zu den meistdiskutierten Werken überhaupt. Doch ungeachtet davon, ob E.T.A. Hoffmanns Geschichte als Ausgeburt der Fantasie, als Beschreibung einer fantastischen Realität oder als psychologische Krankheitsgeschichte gelesen wird, bietet die Konstellation mit dem lebendigen Nathanael und der Puppe Olimpia den perfekten Schlüssel für die Begegnung mit guter Kunst.Denn was Nathanaels Liebe zu Olimpia so gross werden und ihn die Puppe bis zum Wahnsinn lieben lässt, ist der Vorzug der Leerstelle, die eben eine Puppe im Unterschied zu einer Frau darstellt. Wenn Nathanael zu Olimpia sagt: «Du tiefes Gemüt, in dem sich mein ganzes Sein spiegelt!»,2 dann meint er damit auch, dass seine Liebesfantasie nicht durch einen realen Charakter der Geliebten gestört wird. Nathanael begegnet in der Puppe sich selbst, er reflektiert sich in ihr, fühlt sich daher verstanden und verliebt sich - das ist die Konsequenz davon - eigentlich in sich selbst. Gerade solches geschieht uns, der Betrachterin, dem Betrachter von guter Kunst. Sie weckt unsere innere Verklärung. In ihr erkennen wir eine Reflexion des Selbst, eine Projektion des Eigenen. Ohne dieses Eigene, ohne dieses Selbst, ohne kollektives Bildergedächtnis bliebe gute Kunst möglicherweise eine Leerstelle. Gute Kunst zielt nicht primär auf kritische Analyse, vielmehr weckt sie Gefühle, Wünsche, Erinnerungen. Wir erkennen uns darin, bevor wir verstehen weshalb.
1) E.T.A. Hoffmann: Der Sandmann, Reclam, Stuttgart, 1991
2) ebd. Seite 31

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