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ES BEGINNT: ZWEI SIND DREI

Christina Végh: Wie beginnt ein guter Tag?

Claudia Müller: Der gute Tag beginnt im Café Bachmann. Ein Café, das ­früher in bester Mailänder Tradition ausgestattet war, das heisst, du konntest da ungestört weinen. Heute ist es leider in I-Phone-Manier umgestaltet, wenn du weinst, gucken dir die Leute zwischen die Beine.

Und ihr besprecht den Tagesablauf?

Julia Müller: Wir sprechen über alles Mögliche - Alltag, Freizeit, Freunde, ­unsere Kinder, Kunst.
CM: Dann treffen wir da Leute, mit denen wir verabredet sind. Zum Beispiel ­unseren Bilder-Informanten. Vorab haben wir ihm unsere Themen angesagt, er ­liefert sie ins Café.

Das klingt konspirativ. Ein Tauschgeschäft? Was gebt ihr dafür?

JM: Früher einfache Gespräche, heute Geld.

Da taucht plötzlich eine dritte Person in eurem Werk auf: Claudia & Julia Müller und X?

CM: Er sagt immer, wir brauchten nicht viel über das Thema zu sagen, da er uns gut genug kennt, um zu verstehen, wo wir gerade wühlen.

Wie lange geht das schon so?

JM: Zehn Jahre sicher.

Ein verdeckter Bildersucher.

JM: Und dann treffen wir Senam.
Das ist auch konspirativ.

JM: Das sind andere Themen, du weisst ja.
CM: Im Anschluss geht es ins Atelier. Dort ist Konzentration angesagt.

Wie sieht das konkret aus?
CM: Das ist ein gemeinsames Gespräch inmitten von Bildern und Büchern.
JM: Ja, aber so ein Dialog kann überall stattfinden. Dazu braucht es nicht unbedingt das Atelier. Ein gutes Gespräch entwickelt sich wie eine Spirale. Manchmal geht der Prozess schnell, manchmal langsamer.

Und das Gegenteil? Gibt es eine misslungene Arbeit? Was war der grösste ­Fehler in eurer Karriere?
(Lange Pause.)

CM: Ich bereue, dass wir uns beim Ankauf der Arbeit «Zoo» (2001) darauf ein­liessen, die ursprünglich als Wandzeichnung konzipierte Arbeit auf Papier auszuführen. Manche «Derivatarbeiten» sind nicht geglückt.

Was meinst du damit?

JM: Manchmal sind wir gezwungen, schnell zu produzieren. Wie das so ist: Das eine Mal gelingt der schnelle Wurf und das andere Mal eben nicht.

Mut zum Scheitern, heisst das positiv formuliert. Ihr habt keine Angst, grosse Themen anzugehen und dabei die eigene Kontingenz sichtbar zu machen. Schon bei Ausstellungstiteln wie «Wir wissen nichts und müssten alles sein» (2001) kommt das zum Ausdruck.

JM: Das Scheitern als solches interessiert uns: die Unzulänglichkeiten, die Ängste, die unterdrückten Emotionen. Sehr konzentriert haben wir diese Themen in ­unserer Reihe zum heiligen Antonius bearbeitet, die in das Künstlerbuch «Die Angst, die Finsternis, die Trostlosigkeit und das Unheilvolle» (2004) mündete.

CM: Es ist eine Ausnahme, dass wir mit einem so klassischen Topos der Kunst­geschichte wie der Versuchung des heiligen Antonius arbeiten. Meistens sind es ­beiläufige Geschichten, die wir bearbeiten. Dabei sind wir von humanistischen ­Fragen geleitet: Wie ist der Mensch im Leben und in der Welt verankert? Wie lässt sich das menschliche Mass in Relation zum Universum deutlich machen? Die gros­sen Themen steuern wir mittels kleiner, psychologisch aufgeladener Geschichten an. Mikro- und Makroebene müssen in einem spannungsreichen Verhältnis stehen, wie beispielsweise in der «Party»-Serie (2002). Dargestellt ist eine Reihe von fröhlich tanzenden Menschen, die ausgelassen zwischen Girlanden aus Zeitungspapier und anderem Dekomaterial Silvester feiern. Die aus Scherenschnitten gefertigten Papier­ketten erzeugen mit einfachsten Mitteln eine Festlichkeit. Mancherorts sind sie nicht nur dargestellt, sondern eins zu eins in die Zeichnung eincollagiert. Es kommt zum Bruch in Materialität und Massstäblichkeit. Diese Störungen führen eine leise Melancholie ein, die bei aller Ausgelassenheit in den Bildern spürbar wird.

Mit dem Sprung in Material und Massstab kommt eine Abstraktion ins Spiel. Mancherorts verdecken diese Scherenschnitte oder Lamettastücke teilweise oder gänzlich das Gezeichnete. Ihr nutzt die Dekorationselemente als abstrakte Zeichen, die die Szenen verunklären oder verbergen. Hinzu kommt, dass die Porträtierten selbst in eine fröhliche Maskerade verwickelt sind. Eine Ambivalenz macht sich breit: Es ist unklar, ob es sich um wirkliche Masken oder fratzenhaftes Lachen handelt.

JM: Das Glück währt nicht ewig, ein Walser-Effekt ist spürbar. So auch im Porträt von dir, die «Badende im Schlamm» aus der Reihe «Idylls» (2002). Hier ist es der Schlamm, der verunklärt. Es bleibt in der Schwebe, ob es sich um eine schwarze oder weisse Frau handelt. Der Schlamm bildet Schichten, die das Moment der Zeitlichkeit und Vergänglichkeit einführen; auf jeden Fall ein Störmoment.

CM: In der damaligen Reihe interessierte die Fremdheit im Vertrauten - ein klassisches Thema. Ich erinnere mich an ein beeindruckendes Gemälde, welches im Prado hängt: das Porträt eines Mannes, der anscheinend Brüste hat. Sehr merkwürdig. Ein Bild das hängen bleibt. Solche Bilder suchen wir. Wichtig ist uns dabei eine Form der Subversion. Was aussieht wie ein afrikanisches Ornament, entpuppt sich als einfaches Muster einer Einkaufstüte.

DOPPELUNG, KOPIE, REPETITION, ÜBERTRAGUNG

Die Form der Unterwanderung des Sehens habt ihr in der Bonner Ausstellung mit Vexierbildern auf die Spitze getrieben. Das eine Mal sieht man eine Frau mit langen, wallenden Haaren, das andere Mal macht man in derselben ­Figur ­einen Mann aus, der Pfeife raucht. Die Doppelung ist ein Thema, das auf unterschiedliche Weise in eurer Arbeit immer wiederkehrt. In der Reihe der ­Versuchung der heiligen Antoniusse ist der Heilige, wie der Titel schon sagt, immer doppelt aufgeführt. In zahlreichen Bildern sind doppelte, wie ein Echo aufeinanderfolgende Augen, Augenwimpern zu sehen. Bei der wiederholten Gegenüberstellung von Mensch und Tier handelt es sich schliesslich auch um eine Doppelung.

CM: Kopieren heisst Repetieren und beinhaltet ein Insistieren und Spiegeln zugleich. Wir verdoppeln, um eine Balance im Bild zu finden und Dringlichkeit zu ver­mitteln. Im Falle der Antoniusse fühlten wir uns besonders bestätigt. Kaum eine Legende in der Geschichte ist so oft kopiert worden wie diejenige über die Versuchungen des heiligen Antonius. Wir entwickeln Arbeiten, indem wir bestehende Bildmotive ­kopieren. Die Übertragung interessiert wortwörtlich. Ich stelle mir Zeichen gerne als Elemente vor, die sich von einem Kontext zum anderen verschieben, in Migration sind. In der Reibung und im Konflikt entsteht der Zugewinn an Bedeutung.

Eine weitere Form der Doppelung liegt in eurer Arbeitsweise als Künstlerpaar.
In eurem Künstlerbuch «Freundinnen im Wohnzimmer #01, Claudia & Julia ­Müller» (2003) habt ihr das Thema Schwestern und alle damit zusammenhängen­den Fragen ausgebreitet. Alte Fotos wechseln sich mit Kinderzeichnungen
ab. Dabei erstaunt vor allem eines: Ihr habt haargenau dieselben Zeichnungen gemacht, Motive und Ausschnitte sind die gleichen.

JM: Das kam so: Trotz Altersunterschied sassen wir fünf Jahre lang in ­demselben Schulzimmer, da die einzelnen Jahrgänge zu klein waren. So wurden die ­älteren und jüngeren Kinder beim Zeichnen zusammen unterrichtet. Du siehst: Ich habe als Jüngere noch Blockschrift geschrieben, Claudia hingegen konnte schon Schreibschrift. Die Zeichnungen weisen dieselben Ausschnitte auf, aber sie machen auch Unterschiede deutlich. Zwischen die Zeichnungen haben wir private Fotos von uns ein­gefügt, als Kleinkinder und spätere aus der Zeit unseres Aufenthalts in Berlin.

CM: Mit dem Buch wollten wir die Spiegelung thematisieren. Jeder will sich im anderen spiegeln, und dabei merkt man, dass es Unterschiede gibt. Wir sind uns sehr nahe, aber gerade bei den Unterschieden entstehen Friktionen, die eine eigentliche Spannung erzeugen. Dort setzt unsere Zusammenarbeit an.
JM: Schon bei diesen Kinderzeichnungen werden Differenzen sichtbar, in der Art wie man Dinge ansieht, in der Kombination und Komposition. Bei Claudia spielt die Struktur, die Systematik eine grössere Rolle, während bei mir eher das Atmosphärische und das Narrative wichtig sind. Claudia hat schon gestaltet, ich war ­freier.

Es ist eine bemerkenswerte Geschichte und bemerkenswertes Material. Im Grunde habt ihr die oft aufgeworfene Frage nach eurer Zusammenarbeit ­damit offensiv in den Raum gestellt. Es gibt kein Interview und keinen Text über euch, in dem diese Frage nicht auftaucht. Mit dem Künstlerbuch habt ihr die Tatsache, dass ihr zusammenarbeitet, inszeniert, ja zelebriert.

CM: Für uns ist die Zusammenarbeit selbstverständlich. Für Aussenstehende scheint es nach wie vor enigmatisch, dass Schwestern so eng zusammenarbeiten können, obwohl es mittlerweile doch schon so etwas wie eine Tradition von ­Künstlerpaaren gibt.

Ich schätze, wenn ihr Fotografen wärt wie die Bechers oder Installationskünstler wie Fischli/Weiss oder die Kabakovs, würde eure Zusammenarbeit weitaus weniger zum Thema gemacht. Euer Werk ist zwar multimedial, die Basis bildet jedoch immer das Medium der Zeichnung. Hier stellt sich die Frage nach der Autorschaft viel unmittelbarer. (Pause.)
Wann habt ihr das letzte Mal gestritten?

JM: Gestern? (Kurzes Innehalten.) Nein, letzte Woche. Wir streiten selten wegen der Inhalte, mehr wegen der Organisation.
CM: Ja, aber wir können uns auch während der Arbeit streiten. Manchmal finde ich etwas gut und du nicht, oder umgekehrt. Dann gibt es Diskussionen.

Eure Beschreibung spricht für eine lang erprobte künstlerische Partnerschaft: Über grundsätzliche Dinge ist man sich einig, die Konflikte entstehen beim Meistern des Alltags.

JM: Wir müssen immer wieder darüber verhandeln, wer die unangenehmen Dinge erledigt, wer gegenüber Dritten absagt. Wer ist der «gute» und wer der «böse Cop».

BEZIEHUNGEN UND WOODY ALLEN, FAMILIE UND KUNSTGESCHICHTE

Das Bestimmende in eurer Arbeit ist der Mensch und sein Wertekanon: Konventionen, interkulturelle Vergleiche sowie kulturhistorische oder religiöse Motive werden aufgenommen. Dazu kommen die vielen Tiere, die eure Arbeiten ­bevölkern und immer auch das menschliche Verhalten reflektieren. Es handelt sich also um veritable «Beziehungs-Bilder», die Analyse von Bezugssystemen.

CM: Wir haben einen Woody Allen in der Arbeit.

Es ist logisch, dass Gemeinschaft und Geselligkeit vorherrschende Motive ­bilden und die Figur des Kindes oft anzutreffen ist. Hinzu kommt, dass ihr ­formal gerne mit der Welt des Kindlichen kokettiert: Fehlerhaftigkeit, Tintenkleckse und krakelige Schrift, der Scherenschnitt, das Schattenspiel, Figuren aus Märchen und Mythen. Als Betrachter wird man immer wieder an die ­Unmittelbarkeit, das Spontane der kindlichen Welt erinnert. Ich denke, dies macht die verführerische Qualität im Werk aus, eine Art von Verheissung. Eine Pose des Naiven?

JM: Ich würde statt von «naiv» lieber von «harmlos» sprechen. Harmlosigkeit ist etwas, was wir immer wieder suchen. Dahinter verbergen sich nicht selten ­dunklere Bereiche, wie sie im klassischen Märchen ebenfalls vorkommen.
CM: Was die formalen Eigenschaften angeht: Wenn wir von einer Form des Dilettantismus sprechen, bin ich einverstanden. In einem weiteren Bogen ist damit der Surrealismus gemeint, wie er gerade in der Schweiz durch Dada, Meret Oppenheim, Tinguely oder Fischli/Weiss eine Traditionslinie erhalten hat. Da fühlen wir uns auf jeden Fall heimisch.

Als künstlerische Referenzpunkte habt ihr verschiedentlich bereits Namen wie Fischli/Weiss, Rosemarie Trockel oder Mike Kelly erwähnt. Das psycho­logisch Untergründige gekoppelt mit dem Spielerischen ist eine wichtige Basis dieser Künstler. Die Namensgeberin des Preises, Meret Oppenheim, müsste ganz nach eurem Sinne sein.

JM: Wir bewundern sie beide. Sie ist eine Künstlerin, die sich für die abseitigen, dunklen Seiten des Lebens interessiert hat und dabei alltägliche Motive ­verwendete. Es gibt eine wunderbare Zeichnung von ihr, auf der sich in einer Zimmerecke zwei Ofenrohre kreuzen. Wahrscheinlich hat sie das tatsächlich irgendwo so beobachtet. Es ist faszinierend, mit welch einfachen Mitteln ein menschliches Mass eingeführt ist. Diesen Aspekt suchen wir auch immer in unserer Arbeit.
CM: Es ist uns deswegen eine besondere Freude, den Preis zu bekommen. Unser schönstes Mid-Career-Geschenk war allerdings unabhängig davon: Letztes Jahr ­haben wir uns für 18 Jahre Zusammenarbeit gegenseitig eine Rolex geschenkt. ­Natürlich war der Prix Meret Oppenheim, so überraschend er kam, Anlass, unseren bisherigen Weg Revue passieren zu lassen. Dabei fiel mir auf, dass wir bisher überwiegend mit Frauen zusammengearbeitet haben und dass wir uns einfach auch gerne mit Frauen umgeben. Vor dem Hintergrund einer Kunstszene, die nach wie vor von Männern dominiert wird, spiegelt sich in unserer eigenen künstlerischen Praxis also ein ganz spezifischer Kosmos. Nun bekommen wir auch noch einen Preis, der nach einer Künstlerin benannt ist.

Wie erklärst du dir deine Beobachtung?

CM: Ich habe darauf keine schlüssige Antwort.
JM: Wir haben kürzlich eine Zeichnung von Rosemarie Trockel gesehen. Fast ­hätten wir das gesamte Preisgeld des Prix Meret Oppenheim dafür verbraucht.

Um beim Thema «Frau und Kunst» anzuschliessen: Ich könnte jede Künstlerin ­fragen, inwiefern ihre Mutterschaft möglicherweise ihr Werk verändert hat. Die Frage ist tabuisiert. Wenn ich sie nun trotzdem in den Raum stelle, dann aus zwei Gründen: Ihr interessiert euch immer für die verborgenen Tabus; hier stellt sich nun die Frage, wie ihr selbst darauf reagiert. Zudem borgt ihr gerne kind­liche Stilmittel und habt immer schon mit dem Topos «Familie» gearbeitet, so beispielsweise in der Videoarbeit «Idylls II» (2003), in der ihr sämtliche Möglichkeiten familiärer Zugehörigkeit durchspielt. Die einzelnen Figuren, Mutter, Vater, Kind, wechseln langsam von weissem nach schwarzem Mann oder von Haustier nach Kleinkind. Sämtliche Kombi­nationen werden vor Augen geführt: von der Einzelperson bis hin zur ­vierköpfigen Multikulti-Familie, vom ­Scheidungskind mit Papa bis hin zum ­kinderlosen Paar mit Blumenstrauss.

JM: Der persönliche Kosmos spielte immer eine Rolle im Werk. Darin bildet sich ab, dass wir uns immer schon in einem erweiterten Familienkreis bewegt haben. Die Gründung der eigenen Familie hat deswegen gar nicht so grundsätzlich etwas verändert. Mein Sohn bestätigt lediglich, dass Kinder einen tollen Zugang zu ­Bildern haben und ihnen eine rohe Kraft innewohnt.
CM: Der Widerstreit zwischen künstlerischer Energie und Familie ist unbestritten. Die Macht der Familie kann so stark sein, dass man im Künstle­rischen nicht mehr in die Tiefe gehen kann. Das ärgert. Die männlichen Kollegen wirken losgelöster in dieser ­Situation; ich fühle mich stärker eingebunden.

Die persönlichen Referenzen in eurem Werk machen den konzeptuellen Teil aus, der an die verführerische Basis des Narrativen, Kindlichen oder - wie ihr es lieber nennt - des Harmlosen anschliesst. Deswegen wird man mit euch immer wieder über Biografisches sprechen. Der Einbezug eures persönlichen Kosmos wird in frühen Arbeiten wie «Enzyklopädie der Freundschaft» (1993) deutlich. Meist sind die Verweise nicht so explizit sichtbar, aber trotzdem immer vorhanden. Ihr nutzt private Bilder aus dem Freundeskreis, wie im Falle des ­bereits erwähnten Werks «Badende im Schlamm». Es ist nicht so, dass ihr diese Hintergründe in eurem Werk für den Betrachter aufschlüsselt, aber sie bilden selbstreferenzielle Inseln, die im Gesamtwerk ein Netz der Bezüglichkeit spinnen. Sie thematisieren euren Standort und Ausgangspunkt, eure ­eigene Perspektive wie auch die Werkgenese als solche. ­Referenzialität wird hier nicht im Sinne einer klassischen Konzeptkunst mittels Kunsttheorie oder ­Kunstgeschichte hergestellt, sondern vielmehr mittels ­eigener biografischer ­Fragmente.

CM: Zu Beginn unserer Karriere haben wir unseren persönlichen Kosmos direkt thematisiert, dann sind wir zu grösseren Zusammenhängen vorgestossen, geistesgeschichtlichen Themen wie beispielsweise das Fremde im Eigenen. Wie nahe kann sich der Mensch kommen? Wir haben begonnen, uns für Brauchtum in seinen ­aktuellen, manchmal sehr eigentümlichen Abwandlungen zu interessieren; ebenso beschäftigen uns Pantomime oder Tanz. Gesellschaftliche Normen, Drama wie ­Tragik des Lebens werden in diesen Kunstformen überhöht dargestellt.
JM: Formal sind wir in jüngerer Zeit grosszügiger geworden. Wir arbeiten mit ­grösseren Gesten und sind malerischer. Unsere Werkreihen sind nicht mehr so ­ausgedehnt, dafür nehmen wir uns mehr Zeit, die Ausstellungen vor Ort zu ent­wickeln. Dies ist sicher im Zusammenhang mit unserer neuen Zeitökonomie zu ­sehen. Retrospektiv werden diese Ausstellungen wiederum als Werkreihe wahr­genommen werden.
CM: Wir sind keine Kontrollfreaks mehr im Mikrobereich. Wir sind freier und ­interessieren uns mehr für malerische Phänomene. Wir sind inhaltlich etwas von der familiären Rückbindung der Motive zurückgetreten, führen aber umgekehrt ­formal bei der Ausführung, durch einen freieren und gestischen Ansatz, eine verstärkte persönliche Dynamik ein.

NEUE ENTWICKLUNGEN, GROSSZÜGIGKEIT UND VERLANGSAMUNG

Ein erstes Mal habt ihr das bei unserem gemeinsamen Projekt im Bonner Kunstverein ausprobiert. Ihr habt dort Raumcollagen mit zeichnerischen und malerischen Partien in einer Halle mit sechs Meter Deckenhöhe gemacht. Für mich ist es immer ein besonderes Erfolgserlebnis, wenn Künstler in ­unserem Raum Risiken eingehen und etwas Neues erproben.

JM: Deine Räume haben uns gezwungen, neue Arbeitsweisen und Techniken zu ­suchen, um mit der Grösse umzugehen. Seit Bonn haben wir vor keinem Raum mehr Angst. Im Unterschied zu früher planen wir heute weniger im Voraus und ­suchen stärker die Auseinandersetzung vor Ort. Wir arbeiten öfters in situ, wobei manche Teile der Installation ad hoc entstehen. Bei der Konzeption im Raum sind wir dynamischer und aktiver geworden.
CM: Neben den Ausstellungen bieten uns besonders die Kunst-am-Bau-Projekte die Möglichkeit, uns in neuen Techniken und Medien zu erproben. Wir haben in den letzten Jahren in Keramik gearbeitet und uns mit alten Gusstechniken beschäftigt. In diesen Tagen sind wir mit der Herstellung von eingefärbtem Glas für Kirchenfenster beschäftigt und arbeiten mit einem faszinierenden Auto­matenbauer.

Ihr interessiert euch nicht nur für diese alten kunsthandwerklichen Traditionen, sondern ihr nehmt auch die althergebrachten Umgangsformen auf. Bei «BIM BAM» (2005) habt ihr eine Glocke giessen lassen, die nach alter Sitte mit einer Musikprozession an ihren Standort zwischen den Wohn­türmen in Zürich-­Hardau gebracht und feierlich aufgezogen wurde. Woher kommt dieses Interesse an den alten Techniken und Bräuchen?

JM: Die analoge Handhabe ermöglicht eine Verlangsamung. Darüber hinaus vermittelt der direkte physische Kontakt eine gewisse Unabhängigkeit, im Gegensatz zu allem, was mit dem digitalen Datenfluss zu tun hat. Weitere positive Eigenschaften der tradierten Techniken sehen wir in der robusten Materialität, die ein langes Überdauern garantiert, und in der Wandlungsfähigkeit der Bedeutungen. Beim jüngsten Projekt, das wir für einen Leseraum der Universität Luzern entwickelt ­haben, wird eine Skulptur in Form einer Eule, die auf einem Ast sitzt, die Zeit ansagen. Bewegungen von Kopf, Augen oder Ohren zeigen die Zeit an, jedoch nicht in herkömmlicher Form, sondern in studentischer Zeitrechnung. Beispielsweise dreht sich der Kopf der Semesterdauer entsprechend.

DIE BILDERKISTEN, DAS LOCH UND IN RUHE LASSEN

Zurück zu eurer Bildersammlung. Welches Bild interessiert?

CM: Meinst du Bilder, die wir tatsächlich nutzen, oder nur Bilder zum Sammeln? Wir haben eine a-, b- und c-Kiste. In der a-Kiste sind die Bilder, die wir konkret für Werke nutzen. Sie bleiben meist lange in der Kiste und beinhalten Motive, die immer wieder neu aufgeladen auftauchen. «Mann mit Katze» ist so ein Beispiel, oder «Wald». Beispielsweise ist neulich in der c-Kiste ein Bild von Victoria Beckham mit ihrem Kind gelandet. Im Grunde vermitteln die Bilder von ihr immer dasselbe. Entweder kommt sie von einem Flughafen oder sie geht in eine Shopping Mall. Auf dem Bild trägt sie ein zitronengelbes Kleid und Plateauschuhe. An der Hand hält sie ihren Sohn, der wiederum ein Stofftier hinter sich herzieht. Interessant an der Aufnahme ist die Beziehung zwischen dem Stofftier und der Beckham. Sie ist eine extreme Form, eine Ikone, während ihr Sohn noch nicht so kontrolliert und abgeschlossen ist.

Und warum c-Kiste?

CM: Weil sie als Person am Ende doch zu wenig interessant ist, zu flach, zu wenig Hinterhirn. Das Kind ist da schon viel reizvoller.
JM: Früher hätte das Bild eher in der a-Kiste landen können. Da haben wir uns mehr für die Trash-Promi-Bilder interessiert. Heute sind uns diese Bilder zu verbraucht. Die nutzen wir nicht.
CM: Spürt man eine Inszenierung? Gibt es eine Spannung? Handelt es sich um ein gestelltes Bild oder um eine echte Emotion? Für diese Fragen haben wir im Laufe der Jahre ein Auge entwickelt. Zeichenhaftigkeit ist wichtig. Wofür steht der unkontrolliert geschwenkte Teddy neben der so durch und durch kontrollierten Beckham, um beim vorherigen Beispiel zu bleiben.
JM: Wir sprechen die ganze Zeit von einzelnen Bildern, obwohl wir nie - oder nur sehr selten - mit einzelnen Bildern arbeiten, sondern mit mehreren gleichzeitig. Quellenmaterial können auch abstrakte Muster, Strukturen aller Art oder Architektur sein. Darüber hinaus gibt es immer wieder Fotos, die zu gut sind; die können wir mit dem Zeichnen nicht besser machen.

Nutzt ihr sie in euren Collagen?

CM: Nein, die lassen wir in Ruhe.
JM: Das hat wiederum etwas mit dem Leben zu tun. Wir suchen nach Geschichten in den Bildern. Es sind nie Antworten, sondern Fragen, die wir aufspüren. ­Unsere Zeichnungen haben nie einen Punkt. So kommt es dazu, dass Themen und Aspekte immer wiederkehren, sie werden immer wieder mal hochgespült.
CM: Es gibt ein fantastisches Bild, das wir kürzlich gefunden haben. Darauf ist eine Stadt aus der Vogelperspektive zu sehen. Inmitten eines Strassenzugs tut sich ein Loch auf. Es sieht aus wie eine Fantasy-Szene, ist aber in Realität eine Aufnahme aus Mexico City. Die Stadt ist auf unterhöhltem Grund gebaut. Das Bild veranschaulicht, wie unsicher der Boden ist, auf dem wir gehen. Und vor allem macht es neugierig auf das, was sich möglicherweise unter der Stadt befindet.

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