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A. M.: Ingeborg, dein erlernter Beruf ist Schauspielerin. Auf der Bühne wendet man sich mit seinem ganzen Wesen nach aussen - und mehr: man tauscht sich je nach Rolle aus. Wie kam der Wechsel vom Hineinschlüpfen in verschiedene Personen unter den Augen eines Publikums und von der Freude am Gefallen um jeden Preis zum einsamen Geschäft der bildenden Kunst?

I. L.: Ich dachte weniger an Applaus als an die Vorgaben des Regisseurs. Ihm wollte ich gefallen. Das Bild der Person, in die ich mich nie unaufgefordert hineingedacht hätte - die heitere quirlige Cecily in Oscar Wildes ‹Bunbury› oder die in schillernder Liebesgier mannstolle Kindsmörderin Estelle in Sartres ‹Geschlossene Gesellschaft›: das war natürlich eine ungeheure Erlebens­erweiterung für eine junge Frau aus einem bürgerlichen Umfeld. Ich war leidenschaftlich gerne Schau­spielerin.

A. M.: Und doch der Abschied vom Theater? Du bist kein Mensch der treulosen Wendungen.

I. L.: Die Zweifel kamen in Prag. Ich lernte Dissidenten kennen, die später den Prager Frühling machten. Fragen tauchten auf: Welche Anforderungen stelle ich an mein Leben? Was will ich aus meinem Leben machen? Und ich stellte fest: Ich bin eigentlich jemand, der überall und rundherum gehorcht. Ich gehorchte meinem Regisseur. Ich gehorchte den Erwartungen, die man in mich setzte, erfüllte die Rolle, die mir ganz selbstverständlich schien. Und nun begegnete ich Menschen, die das Gegenteil machten, unter grossem Risiko, um ihrem Land eine andere Zukunft zu geben. So begann ich in Prag zu malen. Das war keine grosse Rebellion, aber ein Schritt aus dem Gewohnten. Ich malte die Farben der Vögel im Vogelhaus.

A. M.: Prag war deine Neugeburt? Wie war dann das Zurückkommen in die Schweiz? Hier warst du die Frau des Farbpsychologen Max Lüscher.

I. L.: Ich malte. Ich malte wirklich täglich, wobei es sehr naive, farbschöne Bilder waren. Ich malte natürlich nicht Kühe und Häuschen, jedoch ahnungslos. Bis ich mir sagte: Das kann's ja nicht sein, das muss irgendwas mehr mit mir zu tun haben.
Wie ist meine Situation? Der Mensch macht einen Plan, der Plan reicht ihm nicht aus, dann macht er einen zweiten Plan ... so ähnlich heisst es doch bei Brecht, oder?
Mein erster Plan war die Verbindung von Ehe und Theater. Dieser Plan ging nicht auf. Der zweite Plan war, etwas zu tun, was mit meiner Verantwortung zu tun hat, was mit mir selbst zu tun hat. Und aus dem Bisherigen und der Gegenwart ein Ganzes zu machen, ein neues Ganzes. Damals entstanden die ‹Verbrannten Reihen›.

A. M.: Das klingt erstaunlich für eine junge Frau, die eben noch naive Bilder malte.

I. L.: Ja, in dem Moment, da ich dachte, meine Kunst muss einen Sinn haben, wusste ich auch, dass ihre Form meinen Lebensthemen entsprechen musste. So entstand diese Arbeit mit den ‹Verbrannten Reihen›.
Nach einer Formel errechnete ich progressive Masseinheiten, die ich als Platten schnitt, bemalte, zum Teil verbrannte und dann zusammensetzte. Nach dem Dreischritt These-Anti­-these-Synthese. Das heisst, die Synthese war die Zusammensetzung, und nach meiner Meinung war es eben das, was ich zu wählen hatte. Der Mensch macht einen Plan, und der Mensch macht einen zweiten Plan. Mit der Verbrennung kam auch die Trennung von Max Lüscher.
Als ich die Arbeit mit den Zigarettenstummeln begann, ging es erst einmal wieder um das klare Mass. Die meisten Zigaretten messen 8,5 Zentimeter. Und dann, verglüht zum Stummel, wird es zu einem individuellen Mass. Der Mensch, der seine Luft durch die Zigarette sog, hat ein Stückchen Leben mit ihr verbracht. So habe ich die Stummel als Metapher für gelebtes Leben benutzt. Ich hab da zum Beispiel eine Serie mit Fenstern aus einem Abbruchhaus gemacht und sie auf verschiedene Weise mit Stummeln bearbeitet, mit dem Gedanken: Wenn der Andere und ich durch dasselbe Fenster schauen, sehen wir dennoch nicht dasselbe. Wir geben denselben Dingen verschiedene Wichtigkeiten.

A. M.: Ich sehe in den ‹Verstummelungen› eine entfernte Parallele zu deiner ebenfalls um 1970 entstandenen ‹Dokumentation über A.S.›: vom gelebten Leben in der Zigarette zum enzyklopädisch gelebten Leben des einsamen Sonderlings Armand Schulthess in gefahrvoller Waldeinsamkeit. Mit dieser Arbeit kamst du 1972 an die documenta nach Kassel: zu Harald Szeemann. Szeemann hatte der künstlerischen Potenz der Aussenstehenden, der Geisteskranken ein Forum geschaffen, du hattest den ihm damals unbekannten Armand Schulthess entdeckt. Hat euch zunächst das gemeinsame Interesse zusammen­geführt?

I. L.: Ja, Schulthess faszinierte ihn. Er setzte die Arbeit als Bindeglied zwischen den Abteilungen der ‹Individuellen Mythologien› und der ‹Kunst der Geisteskranken› ein.
Und dann kam dieses alles erschütternde Erlebnis des Lie­bens und damit auch das Gefühl, verstanden zu werden, obgleich die beiden Leben sich auf ganz andere Weise vollzogen hatten. Und da setzte dann eine Krise in der Arbeit ein. Einerseits war ich ganz glücklich durch diese wunderbare Erfahrung, ander­seits wäre es unwahr gewesen, wenn ich die Stummelarbeiten wei­tergeführt hätte. Es waren mehrere Monate, in denen ich nicht arbeitete. Bis ich mir sagte: Ich habe auch vorher etwas gemacht, das mit meinem Leben aus Überzeugung zu tun hatte, also muss ich das auch jetzt machen. So arbeitete ich über das grandiose Thema des Liebens.

A. M.: Du sagst «des Liebens», im Sinne einer selbstverantwortlichen Tätigkeit, nicht einfach passiv «der Liebe». Das finde ich etwas Wunderbares. Hat sich jetzt in Plan II Unvorhergesehenes eingeschoben?

I. L.: Ja. Als ich noch eine junge Frau in Berlin war, mit meinem Theaterleben, dachte ich mir: Es gibt drei Situationen, die das Schlimmste wären, was mir im Leben passieren könnte. Die erste war, mich in einen Kommunisten zu verlieben; man muss sich vorstellen, Berlin war Frontstadt, und wir waren mit dem Hass auf den Kommunismus indoktriniert. Die zweite, nächstschlimmste war, ein Kind zu bekommen, ohne verheiratet zu sein, und die dritte, auf dem Lande zu leben. Alle drei Dinge sind mir geschehen, und alle drei wurden das wahre Glück für mich.
Damals sind durch dieses stärkende Thema des Liebens
Arbeiten entstanden, zu denen ich nun den Mut hatte. Sich ihnen als Frau auszusetzen, war doppelt risikoreich, wenn man ernst genommen werden wollte: Telepathie, Vorhersagen, Eros, Traum, Tod, und ja, Liebe natürlich. So entstand zum Beispiel die Kartenarbeit. Mit Polaroidkamera und Aufnahmegerät ging ich zu einem Medium. Ich kannte es so gut, dass ich es Muttchen nannte. Ich ging nicht davon aus, dass das, was die Frau mir sagte, unbedingt eintreffen müsste. Aber ich benutzte ihre Vorhersagen als Denkmodell. Ich sagte mir: Wenn das so ausgeht, wie sie mir sagt, was wäre in dem Fall zu tun?
Ich fotografierte die einzelnen Stufen des Kartenlegens, ­um sie später in neun Glas-Mahagoni-Vitrinen in der Abfolge ihres Entstehens rekonstruieren zu können. Die Karten dafür habe ich nicht gekauft, sondern mit feinem Haarpinsel gemalt, manche neun Mal. Natürlich war mir klar, dass Kunst nichts mit Fleiss zu tun hat. Es war eher so etwas wie eine mönchische Übung. Die Vorhersagen der Frau habe ich kombiniert mit den Träu­men, die ich in dem halben Jahr nach dem Kartenlegen hatte. Die ­Träume waren witzig, erotisch, sehr verrückt und hatten eine ­erstaunliche Nähe zu dem, was das Muttchen prophezeit hatte. Es wäre plump, eine Verifizierung durch das reale Leben daneben zu setzen, denn schliesslich ist es keine wissenschaft­liche Arbeit, es ist Kunst, es ist Spekulation, es ist Poesie.
Und deshalb eben die Träume, statt zu sagen: Dieses und jenes geschah wirklich. Sie sagte mir auch mein Kind voraus. Im Traum, der Prophezeiung zugefügt, sitze ich in einer grossen blauen Blase mit einem blauen Kind auf dem Schoss und bin unsäglich glücklich.
In der Arbeit ‹RE-›, der Abkürzung von Reinkarnation, liess ich mich unter Hypnose in frühere Leben einführen. Ich war überzeugt, dass es einen Fortlauf der Leben gibt, weit über unsere Welt hinaus. Das Hineinschauen in frühere Leben war dramatisch und weckte auch Zweifel.

A. M.: Deine Ausflüge in esoterische und magische Welten wage ich als Aussenstehende nicht zu interpretieren. Ich sehe die formale Schönheit der Darstellung, die Botschaft ist mir fremd, dich aber führten Traum und Kind ins volle Leben.

I. L.: Das kleine Kind wurde tatsächlich geboren, erhielt den Namen Una, war wunderschön, mit einem so harmo­nischen Gesichtchen, dass man sagen musste, es sei wie mit dem Zirkel gemacht. So entstand die Arbeit ‹la piccola una e proprio fatta col compasso›. Zu dieser Arbeit musste ich mich sehr überwinden: eine Frau über eine Schwangerschaft!

A. M.: Der Zeitgeist gab dir jedoch recht mit dem Satz der Frauen: Das Private öffentlich machen, das Öffentliche privat.

I. L.: Ja, schliesslich habe ich mir gesagt, dass so eine Arbeit sowieso von keinem Mann gemacht werden kann.
So entstanden elf Tafeln, an die kleine Büchlein gebunden sind, die man öffnen kann. In jedem dieser Büchlein ist eine Art Geschichte, ein Erlebnis aus dieser Schwangerschaftszeit fest­gehalten, die wirklich mit dem Anfang beginnt und mit dem Schluss endet, als das Kind in die Dorfgemeinschaft aufgenommen wird. Zu sehen sind die Fotos aus diesem Leben, also zum Beispiel: die Dorffrauen kamen und hatten mir alle kleine Schuhe für dieses Baby gehäkelt, das sind insgesamt 32 Paar, die auch auf dem Foto zu sehen sind. Und dann haben die Dorffrauen mir die Rahmen für diese Tafeln gestrickt, der erste Rahmen ist weiss, dann hellgelb, hellgrün und so weiter, bis hin zur elften Tafel mit einem gestrickten orangefarbenen Rahmen.

A. M.: Unser Gespräch dreht sich immer wieder um deine Arbeiten. Dabei wollen wir kein Werkverzeichnis machen. Tatsächlich scheint alles, was dir geschieht, Gestalt im Bildnerischen anzunehmen. Biografie und Werk sind eins. Deine Wurzeln reichen in den Nährboden, wo Alltag und Kunst, Leben und Lust sich (noch) berühren können. Ich denke etwa an die Fotografien vom Fischmarkt oder an die Fusseln aus dem Tumbler, die uns Hausfrauen sonst auf die Nerven gehen.

I. L.: Seit 1989 und immer weiter sammle ich aus dem Sieb des Tumblers die Fusseln, die ich wieder in der Form von Kleidungsstücken in Ausstellungen auf dem Boden auslege, so wie früher die Bäuerinnen ihre Wäsche auf dem Rasen zum Trocknen ausbreiteten.

A. M.: Zum Täglichen gehören auch deine Begegnungen mit Menschen. Du glaubst an ihre schöpferischen Möglichkeiten, von der Dorfnachbarin bis zu Ai Weiwei. Du traust ihnen die Kunst des Zauberns zu und machst daraus eine Dokumentation, die du durchhältst: seit Jahrzehnten!

I. L.: Ich traue ihnen nicht die Kunst des Zauberns zu, aber ich traue vielen die Kunst der Wahrhaftigkeit zu. Ich begann 1976. Meine Freundin Gitty Darugar hatte mich foto­grafiert, wie ich eine Zauberin spielte. Und als ich die Fotos sah, war ich verblüfft, wie viel von mir in diesem Spiel war. Damit war die Serie der ‹Zaubererfotos› geboren, die immer noch anhält und in der ich über 500 Menschen konfrontiert habe mit der Aufforderung: «Bitte zaubere, was immer das für dich in diesem Augenblick bedeutet».
Ich mache jeweils 18 Fotos, von denen ich neun auswähle und entweder als ihre Geschichte oder frei anordne. Die Menschen sind wunderbar. Sie haben dafür keine Vorbilder, die sie imitieren können, sie tun einfach alles, und dies auf ihre ganz eigene Art. Du musst nicht mein Durchhalten bewundern. Es ist so aufregend, Zeuge eines kreativen Aktes zu sein. Ich möchte nicht darauf verzichten, so lange ich eine Kamera halten kann.

A. M.: Die Zauberer reden nicht, sie tun. In einigen Werken beschreibst du die Menschen durch Worte. Es gibt ein schmales literarisches Werk der Ingeborg Lüscher, dessen Originalität eine eigene Würdigung verdienen würde. Dazu gehören ‹Dokumentation über A.S.› zu Armand Schulthess, und ‹Der unerhörte Tourist - Laurenz Pfautz›.

I. L.: Damit ich überhaupt von Schulthess erfuhr, brauchte es eine Kette von zusammenhängenden Ereignissen, die mindestens sechs Jahre vorher begannen. Dann geschah es, dass eine Freundin mir ihren neuen Ehemann vorstellte, der erzählte, er sei einmal als Kind im Tessin gewesen, mit seinem Onkel bei einem Einsiedler, der Tausende von Informationstafeln über alle Wissensgebiete der Welt in die Bäume seines Waldes gehängt habe. Seinen Namen wusste er nicht mehr. Bei einer solchen Beschreibung entsteht natürlich gleich das farbigste Bild im Kopf und der Wunsch, das selber sehen zu wollen. Aber wo im Tessin? Mein Gast wusste es nicht. Aber ich wusste, dass ich mich auf die Suche machen würde.
Das Tal, in dem ich selber wohne, heisst Centovalli, Hundert Täler. In einem Seitental fand ich ihn tatsächlich. Und die fan­tastische Enzyklopädie war grandioser als alles, was ich mir vorgestellt hatte. Schulthess lebte noch, aber wenn ich ihm nahe kam, versteckte er sich. Ich brachte jede Woche wissenschaftliche Zeitschriften, den Spiegel und leere Konservendosen, aus deren Metall er seine Informationsträger schnitt, und legte sie ihm vor die Türe seines Hauses. Und dann, nach fast einem Jahr, gab es doch den ersten Kontakt, nachdem er mich mit Steinen fast erschlagen hätte und mich wenig später aufforderte, neben ihm an einem Abgrund zu stehen. Offenbar hatte ich die Initiation be­standen. Und von da an erwartete er meinen Besuch jede Woche.
Laurenz Pfautz trat in mein Leben, weil er in einer Universitätsbibliothek mein Buch über Armand Schulthess gelesen hatte und glaubte, dass ich auch für ihn Verständnis hätte. Pfautz war ein Heimatloser mit amerikanischem Pass und einigen Plastik­tüten. Er roch nach Urin. Sein Überleben hing davon ab, wie lange ihn jemand ertrug. Er schrieb surreale Texte und verstand es, einen immer wieder in die Falle zu locken. Er war unerträglich und faszinierend und über ihn erfuhr ich die Grenzen meines Gutmenschseins.
Schulthess gab mir eine Ahnung von der Gratwanderung seines Lebens. Eine Wanderung, auf die ich mich selber nicht einlassen musste und die doch für mich Erfahrung wurde, genauso wie die Erfahrung meiner Grenzen bei Pfautz.

A. M.: Pfautz und Schulthess besetzten die dunkle Seite des Lebens, die dich anzieht, der du aber das Licht entgegensetzt. Die Farbe Gelb ist zu einer Art Markenzeichen für dich geworden.

I. L.: Der gelbe Schwefel fiel mir in einem grossen Glas in der Drogerie von Locarno auf. Ich kaufte alles, was drin war, schüttete es im Atelier in eine Wanne und labte mich daran. Man kann es nur so ausdrücken. Dieses Gelb! Naja, dann kam, was geschehen musste, ich malte damit. Zuerst Vulkanbilder, dann den Zehnerzyklus, eine über drei Meter hohe Abfolge von zehn Bildern, in denen Licht das Schwarze durchdringt und umgekehrt. Dann wurden die Bilder strenger und ein wenig kleiner, schliesslich kamen die ganz kleinen Skulpturen und «Schachteln», die nur noch bestäubt waren mit Schwefel, und dann wieder die grossen, strengen Blöcke in Schwarz und Gelb. Es ging lange, bis ich ein Schwarz fand, das, sagen wir's mal so: der «Persönlichkeit» des Gelb gewachsen war. Ich kaufte alle Schwarz im Handel auf, stellte selber Schwarz her, ging mir die Tintorettos in der Ca' Rezzonico in Venedig anschauen. Nichts. Bis ich entdeckte, dass die Lösung in der Oberfläche des Schwarz zu suchen war.

A. M.: Du machst es dem Publikum guten Willens nicht leicht. Du bietest keine Stileinheit an, die sofort erkennen liesse, dass ein Werk von dir stammt, was ja die Menschen bekanntlich in ihrem Kunstvertrauen und damit in ihrem positiven Urteil stärken würde. Du aber benutzt eine Vielzahl von Ausdrucksmitteln: Bilder, Bücher, Skulpturen, Instal­lationen, Fotografien, Videos, Materialien wie Stein, Pulver, Pflanzen, Textil, Kunststoff, und alles in einer Selbstverständlichkeit, als seist du jeweils im ganz Eigenen.

I. L.: Die Arbeit hat nichts Strategisches, gerichtet auf das Ziel der Wiedererkennbarkeit für den Kunstmarkt, die Preise. Das hängt mit dem Aufscheinen der Ideen zusammen. Sie sind wie Sternschnuppen. Wenn ich sie wahrnehme, ist erst mal die freudige Überraschung da, dann die Frage: Was soll das? Ist es nötig, dass ich das mache? Wo würde die Arbeit in meinem Werk und in einem heutigen Kunstkontext stehen? Aber bevor noch diese Fragen kommen, ist es mir klar, auf welche Art die Arbeit ausgeführt werden soll. Ich hatte zum Beispiel einmal in einer Drogerie ein Stück honigfarbiger Glyzerinseife gekauft mit dem Gefühl, dass daraus etwas entstehen könnte. Das Stück lag sicher mehr als ein Jahr bei mir herum. Plötzlich, es war Abend, hatte ich den Wunsch, die Seife zu holen und vor eine Glühbirne zu halten. Und genauso plötzlich war der Begriff ‹Bernstein­zimmer› da. Und das Gefühl: Das mache ich. Mit dieser Seife. Keine Ahnung, natürlich, von den Schwierigkeiten, die sich stellen würden, und den 9000 Stück, die es dafür brauchte.

A. M.: Deine Sternschnuppenideen führen oft zu fantasievollen formalen und technischen Lösungen. Dass seit einiger Zeit Video dazu kommt, ist unerwartet. Gab es eine Sternschnuppe?

I. L.: Anfänglich nicht. Die Idee zu meinem ersten Video vor zwölf Jahren entstand in Peking, als ich mit chine­sischen Freunden in einer Bar sass und sie das ‹Bienchen-Spiel› spielten. Das ist unserem Schere-Stein-Papier-Spiel ähnlich. Aber die Chinesen spielen es mit einer solchen Leidenschaft, Erotik und Verrücktheit - sie rasteten total aus vor Spielfreude, die Flaschen des hochprozentigen King of Mongolia kreisten. Ich war fassungslos und dachte immer wieder: Und das sind
Chinesen! Die stellt man sich bei uns ja wirklich anders vor! Ich wollte etwas davon in unsere Welt bringen und wusste, es gäbe dafür kein glaubhafteres Medium als Video.
Und wieder Leidenschaft: das euphorische tausendfache Johlen der Zuschauer, die sich übereinanderwerfenden Körper der Spieler nach einem geglückten Fussballtor - das war so ein Sternschnuppenerlebnis. Ich hatte nie ein Fussballspiel gesehen. Aber natürlich wusste ich etwa, was bei Toren los war. Nur dieses eine Mal - der Fernseher war zufällig an - erlebte ich die Szene in ihrer Ausserordentlichkeit der Leidenschaft und wusste: Das ist es! Ich lasse die Spieler der - damals - wichtigsten Schweizer Mannschaften, Grasshoppers und FC St. Gallen, in Massanzügen von Trussardi gegeneinander antreten.
Auf dem Fussballfeld erlebt man dieselben Qualitäten wie bei den CEOs der obersten Etagen: hartes Training, absoluten Siegeswillen, Fouls, Tricks, Fantasie, Charisma, Geld und Macht. So sausen während des Spiels die Mobiltelefone durch die Luft, ein Aktenkoffer fällt vom Himmel, platzt auf, mal fällt der Ball, mal ein Laptop ins Tor.

A. M.: Du hast die «Fusionitis» von Firmen schon vor zehn Jahren karikiert.

I. L.: Ja, sie machte mir Angst.

A. M.: Spiegelt sich in deinem ganzen Werk nicht ein halbes Jahrhundert Zeitgeschichte, geprägt von deinen Erlebnissen: von der rauchenden Generation der 60er Jahre, den Stummelarbeiten, über Sinnsuche, Magie, Emanzipation bis zur globalen Wirtschaftspolitik und - in jüngster Zeit - zur Sorge um die Natur?

I. L.: Ja: In ‹The game is over›, der Dreikanal-Video-Installation, zeige ich die von Menschen unberührte Schönheit der Natur. Doch Auslöser für die Arbeit war der verdammt zynische Satz von George W. Bush: «The game is over», mit dem er den Irakkrieg ankündigte. Mein Zorn, die Verzweiflung, meine Ohnmacht waren grenzenlos. Ich bin eben ein Kriegskind, die Angst vor dem Krieg ist in meine Zellen eingebrannt. So erlebt man im Video das Kippen zwischen Schönheit und Bedrohung: die Schönheit unserer Welt gegenüber der Bedrohung durch politische Ereignisse und Strukturen.
Wir haben gedreht in der Einsamkeit der Arktis, im Gotthardmassiv, in Sandwüsten und wuchtigen Felsaufwerfungen des Death Valley; Blüten, lichtes Laub im Frühling, der Wasserfall von Foroglio, und dann dröhnende Panzer auf dem Waffenplatz in Thun. Die Bilder der Schönheit sind stumm, eines nach dem anderen. Unerwartet dann das gewaltige Getöse der Panzer und George W.'s Stimme im Originalton, «The game is over», dann wieder Schönheit ... und so fort.

A. M.: Hier wird die Lüscher, sonst den Geheimnissen dieser Welt auf der Spur, hochaktuell. Wird das Alterswerk ein politisches sein?

I. L.: Meine erste politische Arbeit liegt mehr als 40 Jahre zurück. Ich fuhr mit meinem damaligen Freund, einem Kommunisten(!), im kleinen Volkswagen von hier nach Persien und dort bis an die afghanische Grenze. Das war während der 2'500-Jahrfeier. Der Schah hatte gerade sein Buch Im Dienste meines Landes veröffentlicht, ein Hohn gegenüber allem, was ich da erlebte. Ausserdem: In Berlin hatte der persische Geheimdienst den Mann meiner Freundin ermordet, der im Untergrund gearbeitet hatte. Ich las Bücher von Niromand und spendete jeden Monat zehn Franken an den persischen Widerstand. Es war die grösste Summe, die ich entbehren konnte. Auf dieser Reise entstanden ‹Die persischen Füsse›, Fotos von Menschen - bei uns hätten sie Schuhe getragen, dort waren es Gummifetzen, Lumpen, whatever.
Das damals war ein Aufwachen. Deshalb kann ich es bis heute nicht hören, wenn man einen Menschen als Wirtschaftsflüchtling bezeichnet, der die Klage seines Kindes, «Papa, ich hab Hunger», nicht mehr erträgt.

A. M.: Auch deine jüngste Arbeit gilt den Bedrohten, den Opfern der Macht, die du in Israel und Palästina gesucht und besucht hast. Allerdings setzt du auch hier eigene Vorzeichen. Während heute Anklagen und Empörung von beiden Seiten üblich sind, gehst du zu Menschen, die ihre Liebsten verloren haben, und fragst, ob sie verzeihen könnten.

I. L.: Ja, es gibt diese drei Aufforderungen: Denke, wer du bist, deinen Namen, deine Herkunft! - Denke, was die andere Seite dir angetan hat! - Denke, kannst du das vergeben?
Wir haben in Schwarzweiss gedreht und nur die Gesichter. In Karlsruhe, im ZKM, jetzt diesen Frühling, war die erste Projektion. Das Gesicht jedes einzelnen 3,6 Meter hoch. Die Zuschauer waren totenstill, keine Bewegung, höchstens mal, wenn der eine oder andere sich die Tränen wegwischte. Das ist meine Form der Empörung.
Ich wollte, dass Schüler in die Ausstellung kommen. Mir war wichtig, dass junge Menschen davon erfahren. Im Museum war man nicht begeistert, weil Schüler sich angeblich oft albern aufführen. Es war dann alles andere als das. Die Arbeit heisst ja ‹Die andere Seite›. Jede Seite ist die andere für die eine. Der Wahnsinn des Tötens bleibt derselbe. Und auch der Schmerz.

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