Ansichten - Luther auf Granitplateau
Als die Postkarte mit dem Lutherdenkmal in Worms am 16. Juli 1903 verschickt wurde, war das Monument zu Ehren des grossen Reformators 35 Jahre alt. Absenderin und Empfänger der Karte sind nicht bekannt, über das Denkmal dagegen liegen vielfältige und kontroverse Informationen vor.
Ansichten - Luther auf Granitplateau
Wer würde heute noch eine Ansichtskarte mit einem darauf abgebildeten Denkmal verschicken? Nicht nur haben die elektronischen Medien die langsame Briefpost weitgehend verdrängt, es interessiert sich auch niemand mehr für Monumente, diese so langsam entstehenden, zudem noch langlebigen Gebilde, die obendrein häufig belehren und Vorbild sein wollen. Das Lutherdenkmal wurde am 25. Juni 1868 enthüllt, in Worms, der «Lutherstadt». Um 1500 hatte sich dort, wie im geistig freien Klima auch anderer Städte, das neue Gedankengut der Reformation früh und schnell ausbreiten können, und hier fand im April 1521 der Reichstag statt, auf dem Luther gegenüber Kaiser Karl V. seine Thesen verteidigte. Diesem Reichstag vor allem, neben dem Thesenanschlag von 1517, war das Denkmal gewidmet und der heute vergessene Bildhauer Ernst Rietschel (1804-1861), ein Protestant!, schuf einen die Bibel zeugnishaft vorweisenden Luthertyp, der weitum Schule machte. Aber der Theologieprofessor, der ungewollt eine Kirchenspaltung bewirkte, ist hier nicht alleine dargestellt, sondern - und das gefällt mir an diesem Denkmal - zusammen mit weiteren Personen (und Allegorien), die gemeinsam mit Luther die Reformation erkämpften. Um ihn herum, auf Würfelpostamenten wie auf den Zinnen einer mit Ecktürmen versehenen Burg platziert, stecken sie eine Plattform, ein quadratisches Granitplateau mit einer Seitenlänge von 12,55 Metern ab. So sympathisch diese begehbare und damit auch die Möglichkeit der Aneignung bietende Inszenierung eines Kollektivs, eines geistigen, revolutionären Klimas wirkt, so durchaus auch unangenehm kann man die «propagandistische Wucht» des Auftritts empfinden. «Ein feste Burg ist unser Gott», Luthers Kampflied, scheint hier als Denkmal materialisiert, und, nachvollziehbar, rief dessen triumphaler Gestus Unmut im katholischen Deutschland hervor.
Das Wormser Monument wurde Vorbild für das 1917 im Parc des Bastions eingeweihte Genfer Reformationsdenkmal, das - durchaus in Konkurrenz - die Strahlkraft des Calvinismus zum Thema macht. Nicht auf einer Bühne sind jetzt all die Mitstreiter aufgereiht, sondern auf einer etwa hundert Meter langen Skulpturenwand. Da Vorbehalte gegen die Errichtung von Götzen formuliert wurden, der Denkmal-Boom zudem vorbei war, wurde bei der Ausschreibung des Wettbewerbs von 1908 betont, das Denkmal solle zu Ehren «moins à un homme qu'à une idée» errichtet werden.
Nächstes Jahr finden nicht nur documenta, Skulptur Projekte Münster und Venedig Biennale statt, 2017 ist zudem «Lutherjahr». Warum nicht auch nach Worms (und Genf) oder auch Wittenberg u.a. reisen, um alte ortsspezifische Werke anzuschauen?
Brita Polzer |