Aby Warburg - Der Bilderatlas, rekonstruiert und aktualisiert

Aby Warburg · Mnemosyne, Präsentation in 2 Teilen im Kulturraum St. Gallen, oben: Ausstellungs­ansicht, 2013; unten: Installation mit dem ­Wüsten vom Frohwies-Schuppel, 2016. Fotos: Jiri Makovec

Aby Warburg · Mnemosyne, Präsentation in 2 Teilen im Kulturraum St. Gallen, oben: Ausstellungs­ansicht, 2013; unten: Installation mit dem ­Wüsten vom Frohwies-Schuppel, 2016. Fotos: Jiri Makovec

Besprechung

Seit rund zwanzig Jahren ist der legendäre Bilderatlas ‹Mnemosyne› von Aby Warburg in Buchform zugänglich. Doch erst heute und dank eindringlicher ­Recherchen wird seine Bedeutung als komplex strukturiertes Erinnerungssystem allmählich sichtbar - und das mit grossem Erkenntnisgewinn.

Aby Warburg - Der Bilderatlas, rekonstruiert und aktualisiert

Die Ausstellung im Zentrum für Kunst und Medientechnologie ist erst mal eine Überforderung. Alle 63 Tafeln des Bilderatlas ‹Mnemosyne› mit rund tausend Schwarzweissbildern sind in Originalgrösse rekonstruiert. Dazu kommen zwölf Tafeln von Künstler/innen - unter ihnen Linda Fregni Nagler, Andy Hope 1930, Olaf Metzel, Albert Oehlen, Jochen Lempert, Paul McCarthy -, die das Instrument der Bildertafel aktualisieren.
«Der liebe Gott steckt im Detail.» Diese Maxime, unter die Aby Warburg (1866-1929) seine Erforschung der italienischen Kunst der Frührenaissance gestellt hat, kann die Forschungsgruppe ‹Mnemosyne› des 8. Salons aus Hamburg, aus deren ­Reihen die von Axel Heil und Roberto Ohrt konzipierte Ausstellung hervorgeht, bestätigen. Sie wollte sich einfach mal drei Monate Zeit nehmen, den Atlas, den Warburg in seinen letzten Lebensjahren als umfassendes und ungewöhnliches Instrument zum Nachleben der Antike entwickelt hat, etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Daraus sind vier Jahre geworden. Und noch immer gibt das Hauptwerk des Hamburger Kunsthistorikers Rätsel auf. Warburg untersuchte in der offenen und spannungs­geladenen Struktur der Tafeln und an Bildbeispielen, die weit über den herkömmlichen kunsthistorischen Blick hinaus auch Möbel, Münzen, Briefmarken bis hin zu Presseaufnahmen, Werbung und sogar Filmstills berücksichtigen, wie Motive und Gesten, von ihm «Pathosformeln» genannt, über Kulturen und Zeiten hinweg weitergegeben werden. So stellt er bspw. in Tafel 77 die rasende Medea, die gleich ihre Söhne mit einem Schwert töten wird, in die Nachbarschaft eines Pressebildes der deutschen Meisterin im Golfspiel mit erhobenem Schläger, als wäre sie eine antike Kopfjägerin. Oder Judith. Eine Ahnung von Gefahr im Rausch von Sport und Schönheit um 1930 bahnt sich als aktuelle Deutung an; zumal in der folgenden Tafel 78 der Machtverzicht des Papstes 1929 gegenüber dem faschistischen Italien unter Mussolini inszeniert wird. Nachzulesen sind die Analysen in den 17 ‹Baustelle!› genannten Arbeitsheften zum Atlas, in denen auch sämtliches Bildmaterial vorliegt. In Crashkursen kommentieren Roberto Ohrt und Philipp Schwalb zudem während der ersten Ausstellungstage die Tafeln dialogisch. Das ist, wie der Atlas überhaupt, nicht nur erkenntnis-, sondern auch sehr genussreich.

Until 
06.11.2016
Exhibitions/Newsticker Data Tipo Località Paese
Aby Warburg da 01.09.2016 a 06.11.2016 Ausstellung Karlsruhe
Deutschland
DE

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