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Hans Rudolf Reust Dein Werk, über einen längeren Zeitraum betrachtet,
scheint von einer grossen Kontinuität mit wenigen, oft unterschwelligen,
aber nachhaltigen Veränderungen in der Zeichnung geprägt. Umso mehr stellt
sich die Frage, ob nicht an vereinzelten Punkten doch ein Paradigmenwechsel
auszumachen wäre. Zum Beispiel beim Wechsel von der Konstellation kleinerer
Einzelblätter zu grossen, als Einzelbilder auftretenden Formaten. Gibt es
« Schlüsselwerke », an denen sich bedeutende Entwicklungen darstellen lassen?

Silvia Bächli Du hast recht: Veränderungen bahnen sich bei mir
unscheinbar an, schleichen sich ein... Oft erst im Rückblick sehe ich die
Vorboten. Mein Werk entwickelt sich in Spiralform. Motive tauchen langsam
auf, werden häufi ger, haben eine Hoch-Zeit und verblassen langsam - und
kehren, meist leicht verändert, nach ihrem Winterschlaf ähnlich wieder. Es
gibt keine harschen Brüche - und doch, einen gibt es: 1982 beschliesse ich von
einem Tag auf den andern, keine tagebuchähnlichen Tintenpinselzeichnungen
in Bücher vom Format A4 mehr zu machen, die jeweils in sich abgeschlossene
Geschichten oder Beobachtungen erzählen und geometrisch zu rechteckigen
Blöcken angeordnet werden. Es geht einfach plötzlich nicht mehr, ich muss
diese Praxis abbrechen. Sie ist zu einseitig, zu narrativ geworden. Es
kommt zu abnützenden Wiederholungen. Die Bildideen sind nur noch Hülle,
gemacht ohne innere Frage.
Grundsätzlich scheint mir aber das Arbeiten in Perioden (rosa,
blaue, kubistische etc.) als etwas völlig Widersinniges. Die Fokussierung
auf ein einziges Ziel behagt mir nicht. Es kommt mir wie eine Verengung vor,
einen Anfang zu machen, folgerichtig zu Ende zu führen, abzuschliessen,
dann erst den nächsten Schritt zu tun. Meine Arbeit kann ich nie so
abgeschlossen sehen; da kann man nichts zu Ende bringen, höchstens schauen,
wohin es einen trägt und wie lange man es damit aushält, wie lange es
spannend sein kann. Es kann plötzlich zuende sein, wie mir die Erfahrung
mit den A4-Büchern gezeigt hat. Ich will das ganze Spektrum ringsum, mich
um die eigene Achse drehen können. Überall, in jeder Richtung gibt es
Interessantes aufzulesen.
Eine Konstante besteht seit dem Anfang: Raum. Gute Zeichnungen sind
grösser als das durch den Blattrand begrenzte Format. Die Blätter sind wie
Skulpturen, sie ragen unterschiedlich weit in den Raum hinein, in dem wir
uns bewegen. Die weissen Wände, der Raum gehören untrennbar zum Bildfeld.
Nach dem Einschnitt von 1982 verwende ich nun verschiedene weisse
und gelbliche Papiere in unterschiedlichen, meist kleinen bis mittleren
Formaten. Alle Schwarzweiss-Techniken sind möglich. Die fertigen
Zeichnungen werden in unterschiedlichen Höhen aufgehängt, eine dichte,
eng zusammengefügte Notation von Tönen an den Wänden. Diese Cluster erinnern
mich an die Notenschrift von gregorianischen Gesängen. Diese Gleichzeitigkeit
von Dingen, Zuständen, Schwingungen etc. entspricht dem, wie
ich mein Ringsum und Innendrin wahrnehme: verschiedene Ebenen, die sich
gegenseitig verfärben.
Erzählbare Geschichten mit Anfang und Ende interessieren mich
immer weniger. Das Flüchtige zwischen den Geschichten, deren Tonfall wird
mir wichtiger, mit allen Lücken, dem Nichtgesagten, den Andeutungen, den
Pausen, die Geschichten ohne Anfang und Ende, die nicht mit Worten zu
bändigen sind. Von einer ganzen Figur geht mein Interesse immer näher zur
Haut. Die Distanz wird immer kleiner.
1994 finde ich ein anderes, etwas dickeres Papier. Das gibt mir
die Idee, den misslungenen Zeichnungen eine zweite Chance zu geben, indem
ich sie mit Wasser ganz einstreiche. Die alten Spuren werden im Wasser
ertränkt und mit neuen Spuren zugedeckt. Durch diese Re-Aktion auf etwas
schon Dagewesenes entstehen viel abstraktere Liniengebilde, als ich
sie je gewagt hätte. Spielerisch entdecke ich gegenstandsunabhängigere
Formen, denen ich traue. Diese Arbeiten können keine Cluster-Verbindungen
untereinander aufnehmen, sie sind sich zu ähnlich. Deshalb hängen sie
immer ganz klassisch in einer Reihe nebeneinander. Diese Arbeiten kommen
wie eine Erweiterung der Möglichkeiten zu den andern hinzu.
1996: Im zentralen Raum der Kunsthalle Bern stehen Tischvitrinen,
in denen Zeichnungen aus verschiedenen Jahren nach Familienzugehörigkeit
versammelt werden: der Versuch einer Ordnung mit unscharfen Rändern.
Dieser neue Blick auf meine Sammlung legt Ähnlichkeiten nahe, offenbart
aber auch die grossen Unterschiede im vermeintlich Gleichen. Die immer
wiederkehrenden « Motive » zeigen, so nebeneinandergelegt, wie ungleich
sie sind. Fragen an die Zeichnungen können nach inhaltlichen Kriterien
gestellt werden (z.B. alle « Kleider »), aber auch nach malerischen (« ausgefranst
»), nach technischen (rein « lineare Zeichnungen ») oder aufgrund von
Formähnlichkeiten (« überkreuzt » oder « Schlaufen »).
Auch wenn es bei den kleineren Zeichnungen verwandte Motive gibt,
entsteht Ähnliches nie gleich nacheinander. Ich hüpfe von einem Gedanken
zum nächsten, jedes Blatt ist etwas anderes als das vorhergehende. Es
scheint mir total unmöglich, bei einem einzigen Thema zu verweilen. Etwas
zu wiederholen heisst, etwas erzwingen zu wollen, was man eher geschehen
lassen soll. Die Gedanken würden festsitzen und sich abmühen. So ist
zumindest meine lange - von 1983 bis 2000 - gehegte Vorstellung, mein
Dogma. Mich nur auf ein Gebiet, nur auf eine Möglichkeit zu fokussieren,
scheint mir unmöglich. Bei den kleinen Zeichnungen spiele ich immer wieder
mal Spiele mit mir: nach einer hellen muss eine dunkle Zeichnung gemacht
werden oder eine mit unterbrochenen Linien. Genaue Beobachtung muss sich
abwechseln mit den schleifenden Linien eines Geräusches: Immer wieder
etwas Anderes machen als vorher, ohne das Vorausgehende aufzugeben, alles
mitnehmen und langsam weiterführen: dies ist eines der Prinzipien über die
Jahre. Ich will vergessen, wie das Blatt mit dem Bein von gestern aussieht
- deshalb kann man es nochmals versuchen. Wie sieht es wirklich aus? Wie
fühlt es sich an von innen - wie sehe ich es bei anderen?
2003 arbeite ich zusammen mit dem Verleger Lars Müller an « Lidschlag ».
Dieses Buch besteht aus zweihundert Zeichnungen der Jahre 1983
bis 2003. Aus dem « Bestand » habe ich jedes Jahr 50-150 Blätter in meine
eigene Sammlung « Einsame Insel » weggelegt. Es sind Zeichnungen, die
in Ausstellungen ihren Platz nicht fanden oder so widerborstig sind,
dass ich sie behalten wollte und Arbeiten, die für mich eine besondere
Bedeutung haben. Die grosse Herausforderung besteht nun für mich darin,
dieses Konvolut von 2000 Blättern zu sichten und eine Anzahl von 200-300
Zeichnungen auszusuchen, um die Zeitspanne von 1983?2003 in chronologischer
und linearer Reihenfolge als langsame Veränderung - ein Blättern durch
die Zeit - sichtbar werden zu lassen. Filmisches Denken, Spannungsbögen,
Lesegeschwindigkeit, Vor- und Rückwärtsbewegungen, Pausen, Bezugsnahme auf
vorhergehende Blätter, stockende Wirbel und ruhiges Dahinfl iessen: Eine
Bild-Montage über 21 Jahre. Dieses Projekt umfasst für mich eine ganz
andere, neue (Zeit)-Dimension mit unendlich viel mehr « Wörtern » die zum
« Text » werden sollen. Was hat sich verändert im Laufe der Jahre, was ist
gleich geblieben? Was habe ich wieder vergessen, fallenlassen? Was kam neu
dazu? Sind die Tonlagen über die Jahre verschieden? Welche Geschichte,
welche Geschichten lassen sich damit erzählen?
Neben den Originalzeichnungen sind die über die Jahre entstandenen
fotografi schen Atelieraufnahmen ein wichtiges Moment der Arbeit. Auf den
Fotos sind ephemere Konstellationen festgehalten und Blattbeziehungen
nebeneinander sichtbar, die z.T. nur für die Dauer einer Arbeitssituation
Bestand hatten. Die Sammlung meiner Negativstreifen gilt es durchzusehen
und informative Ansichten herauszusuchen.
Das fertige Buch in der Hand, mache ich mich mit diesem Rückblick auf
den Weg. Ich habe Vieles entdeckt, was angefangen war, was man weiterführen
könnte. Es reizt mich plötzlich, das Unmögliche dennoch zu versuchen und
eine grössere, aber wiederholbare Geste zu wagen. Grosses Papier (200 x
150 cm) verlangt einen ganz anderen körperlichen Einsatz. Die zwei Meter
Länge erlauben einen durchgehenden Strich, ohne abzusetzen. Eine noch
längere Bewegung wäre nur mit einem Schritt und damit einem sichtbaren
Anhalten der Linie zu machen. Jede Linie muss gefüllt sein mit Präsenz,
wie eine gute Tänzerin, die auch über die Fingerspitzen hinaus in den Raum
reicht. Plötzlich kann ich diese für mich neue Arbeitsmethode schätzen
und ich empfi nde die Wiederholung, Ähnliches nochmals und nochmals zu
zeichnen, alles andere als einschränkend. Blütenstengel werden zu Linien,
zu sich überkreuzten Liniengefl echten, zu parallelen Linienbündeln. Agnes
Martin kannte ich mit 22 - schätzen habe ich sie erst viel später gelernt.
Auch wenn meine Zeichnungen heute öfter ein nichtfi guratives Gesicht
haben - sie sind immer noch eng mit dem Körper verknüpft. Überkreuzte
Linien können Handliniensterne sein, übereinander geschichtete Linien sind
warme Decken (Schneedecken, Wolkendecken), Rechtecke und eine geschlängelte
Linie sind Häuser und Wege, waagrechte und senkrechte Linien eröffnen einen
Raum zum Durch-sehen, Durch-schreiten, eine unscharfe Grenze, eine Passage.
Man denkt an Figürliches, obwohl keine Zeichen sicher darauf hinweisen.

HRR Deine kontinuierliche zeichnerische Praxis scheint geleitet
von einer ganz bestimmten, eingestimmten Aufmerksamkeit auf die Welt, und
nicht die unüberblickbare, eher die überschaubare Welt in deinem näheren
Umfeld. Diese Aufmerksamkeit gerinnt in unverrückbaren Bildern, in Stills
anderer, innerer, jedenfalls unsichtbarer Bewegungen? Welcher?

SB Das Gewöhnliche, das Normale scheint mich immer wieder zu
irritieren, scheint immer wieder neue Fragen bereit zu halten: Wie sehen
Finger aus? (genaue Beobachtung) Wie schauen Füsse aus unter dem Stuhl?
(sich etwas vorstellen, ohne es zu sehen) Am besten gelingen mir Zeichnungen,
wenn ich mich körperlich in die Wahrnehmung hineinversetzen kann, wenn
ich es nachspüren kann. Wo gibt es da Stellen, die nicht ausgefüllt werden
können? Wie fühlt sich der Rücken an? (von innen schauen) Wo bin ich
gestern durchgelaufen? (Einen Weg erinnern, gehen und stillstehen) Wie
sehen diffuse Gedanken aus? (Tasten im Nebel) An was erinnert man sich und
wo sind die weissen Stellen? Wo fängt das Neuland an? Was ist darstellbar
unter Vermeidung des Sensationellen? Was bleibt ohne TV-Realität, ohne
Gipfeltreffen und ohne Frau mit Herz? Woraus bestehen die meisten Minuten?
Meine Zeichnungen sind Streifl ichter über unbedeutende achtlose
Bewegungen, Verschmelzungen von Gegenständen, Übermalungen von angefangenen,
wieder verworfenen Figurationen, Geräuschen, Vorstellungen, Kontinente
zwischen dem Naheliegendsten. Das Gegensätzlichste lasse ich nebeneinander
stocken und verfl iessen. Zeichnen ist Versuchen, Tasten und Spielen.
Meine Arbeit ist wie Laut-vor-sich-hin-sprechen. Man probiert aus, ändert
die Betonung, versucht es mit einer anderen Wortreihenfolge, einer anderen
Lautstärke. Manchmal sitzt ein Satz, er trifft das, was man vage geahnt
hat. Im besten Fall entdeckt man etwas, das richtiger, überraschender
ist als die eigene Vorstellung. So ist es möglich, dass sich Worte auch
buchstäblich ins Bildgeschehen einmischen, wie in einer Zeichnung von 2001:
« was | wie ist | nochmals | wie noch | nochmals | noch einmal |
und nocheinmal » oder in einer Gouache von 2005:
« neue ufer | - | alte deiche | horizontstreifen | wolkenberge »
oder in einer anderen Gouache aus demselben Jahr:
« alles weg | nichts | meer da | - / wohin | - | komm zurück | setz
dich | bleib da ».
Die Arbeiten müssen « losgelöst, aber aufs Intimste persönlich sein » (Eva
Hesse). Oft spielt sich das Zentrale nicht auf dem Blatt ab, sondern
eher etwas daneben, vorher oder nachher. Es geht um Spuren einer Anwesenheit,
die im Augenblick ihrer Wahrnehmung schon wieder fl üchtig werden.
Das Vergessen ist dabei eine wichtige Voraussetzung. Nur dank der
Unmöglichkeit, jedes Detail zu erinnern, können ähnliche Fragen nochmals
gestellt werden, und so auch immer wieder andere Aspekte zum Vorschein
kommen. Jede Arbeit muss etwas Unfertiges behalten, eine Möglichkeit für
den Betrachter mitzutun, hineinzuschlüpfen, weiterzuspinnen. « Zeichnen
ist Suche nach dem richtigen Ton, nach einer Formulierung, die stimmt, von
der ich vorher nicht genau weiss, wie sie aussieht » - ein leicht abgeändertes
Zitat von Fernando Pessoa.
Du schreibst in deiner Frage von « unverrückbaren » Bildern. Meinst
du damit wohl « treffende » Bilder, solche, die so sein müssen - oder meinst
du unbewegte? Mir kommen meine Bilder eher so vor, als könnten sie, ähnlich
unstetem Wetter, gleich wechseln, nicht mehr genau die gleichen sein wie
vorher, sobald man kurz nicht hinschaut. Was eben noch klar schien, wird
plötzlich zweifelhaft.

HRR Das Zeichnen ist in deiner Arbeit der erste, der wichtigste
Schritt. Dann aber beginnst du sogleich mit einer zweiten Bewegung:
dem Betrachten und Auswählen, später dann dem Verbinden von Bildern zu
Konstellationen.

SB Bei den kleinen Zeichnungen gehe ich immer noch gleich vor:
zeichnen, trocknen lassen, einsammeln und pressen, dann Durchsicht: die
guten werden an die Wand gehängt, die fl auen weggeworfen. Die Mittelprächtigen
kommen in die b-Mappe. Mit der Zeit wandern einige aus b- in die
a-Kategorie, an die Wand, einige aus b in den Papierkorb, einige aus a werden zu
b oder direkt zu c. Dieses Verfahren lässt mich meine Arbeiten mit mehr kühler
Distanz anschauen und beurteilen.
Ensembles, feste Konstellationen von Zeichnungen, mache ich nur
eine bis zwei pro Jahr, mehr scheint mir nicht möglich. Wenn sie zeitlich
zu nahe aufeinander folgen, werden sie zu ähnlich. Das scheint mir
nicht sinnvoll. Der Entstehungsprozess eines Ensembles dauert im Atelier
oft über mehrere Wochen. Die ersten drei bis vier aufgehängten Zeichnungen
geben der Arbeit eine Richtung - es gibt plötzlich einen roten Faden, auch
wenn die angestimmte Melodie am Anfang noch sehr undeutlich und verschwommen
ist. Fertiggestellt ist eine feste Konstellation mit dem Hängeplan,
in dem die Höhen und die Abstände bis auf einen halben Zentimeter genau
festgelegt sind.
Jedes Ensemble bekommt am Schluss einen Namen:
« alles weg », « Solilja », « twelf », « uma », « left sleeve », « Drift », « L. », « indisch
», « abrikosentraeerne fi ndes », « Karola », « belonging », « Ammassalik », « f
ör », « Tibet », « Ida »,« quittengelb » etc.
Da ich diese Konstellationen meist für ganz bestimmte Räume gemacht habe,
ergibt sich später oft ein grosses Problem mit der Dimension. Die Raummasse
an einem andern Ort stimmen nie mit dem idealen Raum überein, auch wenn
man die grossen Gruppen an einzelnen Stellen knicken kann. Oft ist es
unmöglich ein Ensemble aufzuhängen, da die Wand zu kurz ist.

HRR Bei den neueren Grossformaten, die autonomer in sich selbst
spielen, mag diese zweite Bewegung des Zusammenstellens nicht mehr so
wichtig sein...

SB Mit den grossen Zeichnungen lassen sich auf alle Fälle keine
Konstellationen mit verschiedenen Höhen bilden. In dem Sinn hast du
recht: Hier bleibt es beim Machen und Aufgehängt-lassen für eine gewisse
Zeit, um sicher zu sein, dass die Blätter auch Zeit aushalten können.
In Ausstellungen gehen sie jedes Mal andere Nachbarschaften ein, haben
in jeder neuen Ausstellungssituation andere Partner. Die Suche nach den
richtigen Nachbarn ist jedoch nicht nur bei den Ensembles mein Interesse,
sondern bei jeder Ausstellung. Ich komme nicht einfach mit einigen
Arbeiten dahin. Im Atelier kläre ich schon vorher die Möglichkeiten von
Abfolgen und Verbindungen. Im Modell 1:50 ist die ganze Ausstellung schon
eingerichtet, und vor Ort wird nur noch überprüft, ob mein Vorschlag in
der Realität auch stimmt. Mein Interesse an Zwischenräumen, Rhythmen,
Synkopen, Verdichtungen, an Lautstärke, Gewicht, Leere hat sich nicht
verändert, sei es nun innerhalb eines Ensembles oder in einem ganzen Raum
mit lauter Einzelblättern.
Wenn man meine Arbeiten stur in gleichen Abständen aufhängt, fehlt
etwas. Die Zeichnungen sollen eine Entsprechung haben in dem, wie sie
gezeigt werden: langsame und schnelle Striche, verharrend und tanzend,
angespannt und fl iessend. Die Zeichnungen gehen über den Blattrand hinaus
- so auch die Präsentation.
Genau fixierte Pläne erachte ich immer noch als eine unumgängliche
Hilfe, wenn es um kleinteilige, mehr-etagige Ensembles geht. Diese
Präzision ist nicht Beiwerk, sondern die nötige Schärfe. Im Umgang mit grösseren
Formaten reichen einige Empfehlungen: asymmetrische Hängung, und
unterschiedliche Abstände zwischen den Zeichnungen.
Personen, die mit dem Werk vertraut sind und einen Blick nicht nur
auf das Papier, sondern auch auf die ganze Wand und den ganzen Raum haben,
werden gute Lösungen finden.

HRR Die Konstellationen von kleinen Zeichnungen auf den Wänden sind
also fest. In der Kunsthalle Bern hast du Tische aufgestellt, die je einem
eigenen Ordnungsprinzip folgten. Sind in demselben Fundus von Zeichnungen
auch verschiedene, gleichwertig nebeneinander bestehende Ordnungen möglich?

SB Ensembles, einmal zusammengestellt und mit einem Hängeplan
versehen, taste ich nicht mehr an. Es gibt zwei Ensembles, die zwei verschiedene
Hängeanordnungen haben: « Ammassalik » und « L. ». Die vielen Einzel-
zeichnungen, die ja neben den Ensembles noch bleiben, können als Linien
nebeneinander gehängt oder in Tischvitrinen nach Familienzugehörigkeit
geordnet werden. Die Ordnung auf den Tischen ändert immer wieder mal,
und wird erst bei einem Verkauf endgültig. Je nach Fragestellung könnte
das gleiche Blatt im Tisch « überkreuzte Linien » (bspw: Beine mit Karo-
Kniestrümpfen) und später im Tisch « Kleider » wieder vorkommen. Für einen
neuen Ausstellungsort entwickle ich oft andere Familien aus dem gleichen,
etwas erweiterten Material.

HRR Die Liste der Gesichtspunkte, die zwischen freien formalen
(« ausgefranst ») und fi gurativen Ansätzen (« Finger ») wechseln, ist aufschlussreich.
Könntest du diese Liste noch etwas ausführen? Gibt es noch mehr
solche Ansätze?

SB Ja, man kann zu den frei formalen noch andere Beispiele hinzunehmen:
spröd-splittrig, wolkig, Schattenrisse, Figur und Grund: der
Wechsel von Figur als wichtigstem Element zu weissem Grund als Hauptdarsteller,
überkreuzte Linien, Achten (Kringel in Form einer 8), nach innen
drehend, Schlaufen. Oder inhaltliche Beispiele: Kleider, Arme und Finger,
Zoo, Schrift, Wege, zerren, Codes, Augen... In « les ingrédients » gehe ich
anders vor: Ich nehme eine Zeichnung als Ausgangspunkt, zerlege sie in
ihre verschiedenen Teile (gewellte Linien, Knopfaugen, parallele Linien,
Schnittpunkte, lange fl iessende Linien), und suche zu jedem Teil eine
passende neue Zeichnung. Die Tische haben offene Enden: Es braucht einfach
lesbare und auch sehr entfernte Formen, die man nur schwer noch als
zugehörig lesen kann. Diese « Weitaussenverwandten » müssen mit dabei sein,
um eine geschlossene Schublade zu vermeiden. Die Zeichnungen sollen ihr
Potenzial zu « changieren » behalten.

HRR Es ist üblich, nach Affi nitäten zu anderen Künstlerinnen und
Künstlern zu fragen. Dabei ist klar, dass sich vor allem unsere Generation
nicht in programmatische Auseinandersetzungen verstricken will. Gerade
deswegen interessiert mich, was du an Kunst entschieden nicht magst, was
du ablehnst, wo du im Verständnis Grenzen ziehst.

SB Was ich entschieden ablehne, ist Kunst, die nur virtuos sein
will: gekonnt, aber hohl und leer in ihrer Machart. Diese oberflächliche
Könnerschaft weiss zuviel im Voraus. Und Pathos mag ich nicht, oder das
platte Wiederkäuen von Medienrealitäten, Sex and Crime, auch Schlagzeilen
und Tagesaktualitäten interessieren mich wenig. Ebenso wenig mag ich
mich mit Kitsch mittels Kunst auseinandersetzen. Kunst muss mich nicht
physisch überwältigen. Expressives Schreien muss dem dargestellten Inhalt
standhalten. Wo es mich richtig graust? Beim Einsetzen von Menschen, die
anscheinend freiwillig bestimmte Handlungen ausführen, die sie sonst nie
begehen würden; bei Kunst, die uns zeigen will, wie niederträchtig wir
anscheinend miteinander umgehen können; bei Voyeurismus, vorgekaut und im
geschützten Kunstraum gezeigt.
Wo ich ganz kribbelig werde: Bei dieser meist rundovalen, organischen, abstrakten
Allerweltssprache. Dieses Idiom gibt es seit langem und immer wieder taucht
es auf: wattiert, harmonisch, beige, leicht melancholisch, aber mit einer grossen
Portion Behaglichkeit; bei allgemein gehaltenem, undeutlichem, unpräzisem Vorsich-
hin-reden.
Das « Wie » ist ausschlaggebender als das « Was ». Wie etwas gemacht ist,
welche Haltung dahinter steckt, entscheidet mehr als der gewählte Inhalt. Mir
steht eine romanische Kapelle näher als die sixtinische. Weite karge Landschaften
- Island zum Beispiel - mit ihrer elementaren Leere faszinieren mich
weit mehr als tropische Gegenden. Zeichnen heisst weglassen: eine Winterlandschaft
mit Schnee.

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Silvia Bächli