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G. N.: Als Erstes möchte ich gerne sagen, wie ich es empfinde, dass ich im hohen Alter einen eidgenössischen Preis erhalten habe. Mir ist dabei eine Liederzeile aus der ‹Dreigroschenoper› in den Sinn gekommen, «ja, renn nur nach dem Glück», - ja, ich habe den Prix Meret Oppenheim als Glücksfall empfunden - aber da heisst es dann weiter, «renn nur nach dem Glück, doch renne nicht zu sehr, denn alle rennen nach dem Glück, das Glück rennt hinterher». Da ist wie öfters bei Brecht eine Portion Ironie oder Sarkasmus dabei, denn der Glaube ans breit postulierte Projekt des ‹Pursuit of Happiness› ist doch irgendwie unreflektiert naiv. Aber lustig oder verführerisch ist die Vorstellung dennoch, dass, wenn der Erfolg ausbleibt, dies darauf beruht, dass man zu weit vorausgerannt ist, dass man also bloss ein wenig Tempo herausnehmen, ein bisschen stehen bleiben müsste, damit dieser Erfolg, hier im Sinn von Bekanntwerden, sich einstellt. Ich weiss aber gar nicht, was Erfolg genau ist und soll, ich weiss bloss, dass man angesichts der heute immens angewachsenen Zahl von Kunstschaffenden schon rein statistisch nicht damit rechnen kann, als wichtiger Künstler breit wahrgenommen zu werden, zumal wenn man sich innerlich gegen das marktwirtschaftliche Konkurrenzprimat sträubt.

T. V.: Beeindruckend bei Deiner Arbeit ist, dass Du mit einer klaren Bildsprache arbeitest, die - jedenfalls auf den ersten Blick - gut zu lesen ist. War das von Anfang an Deine Absicht, wolltest Du, dass man versteht, was Du mit den Bildern zu sagen hast, oder hat sich das so ergeben?

G. N.: Ich glaube, das zweite stimmt eher. Als junger Mensch hat man höchstens Vorbilder, man hat Verhaltensmuster, denen man mehr oder weniger folgt, auch das Originellsein ist eigentlich nur ein Verhaltensmuster, das ein bisschen schwieriger zu erfüllen ist. Aber der Wunsch nach einer, wie Du sagst, klaren Bildsprache, man könnte auch sagen, einfachen, simplen, oder sogar plumpen Bildsprache, das ist eine Errungenschaft meiner Arbeit. Ich bin ja nicht direkt Künstler geworden, ich habe nie gedacht, dass ich Künstler würde, ich wollte Grafiker werden, dann habe ich eine Fotografenlehre in der Fotofachklasse gemacht, bin rausgeflogen dort, und dann hat mir Heiny Widmer, ein wichtiger Aargauer Kunstvermittler, den ich sehr geschätzt habe, geraten, das Zeichenlehrerdiplom zu machen. Ich ging immer davon aus, dass ich nicht von Kunst würde leben können - es ist ja auch jetzt noch so. Ich bin ein 68er. Ich bin 1948 geboren und war knapp zwanzig, als ich in Zürich in die Fotoklasse ging, mitten im Trubel, und ich glaube, dieses Postulat, dass die Kunst nicht elitär sein soll, das hat mich dort geprägt. Aber ich habe auch damals schon gemerkt, dass rein politische Kunst, also nur politische Kunst, es nicht bringt. Gleichzeitig mit der marxistischen Philosophie der 68er entdeckte ich die Konzeptkunst. Die Hinterfragung der Medien war in meiner Arbeit denn auch wichtiger. Trotzdem, der Versuch, das Elitäre zu meiden und das Einfache zu suchen, was ja eigentlich das Schwierigste ist, hat in jener Zeit angefangen.

T. V.: Von dort hast Du also mitgenommen, dass Du dich einfach und nicht elitär ausdrücken möchtest.

G. N.: Ja, ‹elitär› ist ein Gegensatz zu ‹einfach›. Es gäbe aber auch noch das Raunen, auch das ist ein Gegensatz zum Einfachen, dieses Ungefähre, das darauf vertraut, dass es dann schon irgendwie verstanden würde. Ich habe ziemlich früh auch nicht mehr an expressive Mittel geglaubt.

T. V.: ‹Elitär› ist heute ja oft auch wieder negativ besetzt. Wenn man sagen möchte: Hör auf zu denken! Wenn man will, dass die Leute nicht denken, dann sagt man: Das ist elitärer Unsinn.

G. N.: Man muss da vielleicht differenzieren. Das gebildet Elitäre, das sehr viel Wissen voraussetzt, ist zwar eine Art Herrschaftsposition. Eine solche Herrschaft finde ich aber akzeptabel; Bildung finde ich etwas Erstrebenswertes, etwas, was heute viel zu wenig beachtet wird. Heute wird Gewicht gelegt auf das Vernetztsein und nicht auf das Gebildetsein, und darum sind so viele Leute, zum Glück nicht alle, wirklich ostentativ ungebildet, obwohl oder weil sie an entscheidenden Posten sitzen, in der Gesellschaft, Wirtschaft und Politik im Allgemeinen, in der Sparte Kunst im Besonderen.

T. V.: Lass mich auf die Einfachheit deiner Bildsprache zurückkommen mit der Frage: Welches Publikum möchtest Du ansprechen? Als Du angefangen hast, hast Du dir da überhaupt überlegt, dass Du mit Deiner Arbeit ein Publikum ansprechen möchtest, oder hast Du einfach einmal Kunst ­machen wollen?

G. N.: Nein, ich will Mitstreiterinnen und Mitstreiter ansprechen, also mögliche Verbündete. Man arbeitet an einer Sprache. Ich kann nicht sagen, dass ich das ‹Volk› ansprechen will; ich habe eine gewisse mich beunruhigende Verachtung für das Volksempfinden, für die Meinung der Mehrheit, zu der ich mich als Kommunist in der Schweiz sowieso immer weniger zählen kann, wenn ich sehe, wie da gewählt, abgestimmt und konsumiert wird. Aber trotzdem wäre das ein Ziel, denn ich glaube schon, dass Kunst im weitesten Sinn - und man kann mich da auslachen - erzieherische Aufgaben hat. Aber gefühlsmässig oder direkt will man Mitstreiterinnen und Mitstreiter ­ansprechen, man will verstanden werden im Diskurs. Man will niemanden bekehren, sondern kollektiv im Diskurs eine Sprache entwickeln, das heisst, man will verstanden werden und man will auch verstehen. Dazu gehörte auch, dass es einen veröffentlichten Diskurs gab, in Form von guten Zeitschriften und ­Publikationen. Auch in der Schweiz gab es bessere Zeitschriften als heute, und dadurch wurde die Diskussion auch breiter geführt. Das war interessant, und da wollte ich mitmachen. Es geht auch nicht nur darum, dass man verstanden wird, sondern man will ja Aussagen machen, die Rückmeldungen oder Rück­fragen provozieren.

T. V.: Was sagen denn diese Aussagen, was ist die Botschaft?

G. N.: Eine klare Botschaft hatte ich nie. Es ging aber trotzdem um Klarheit, es ging darum, dass die Sprache und damit die Aussage klar und reflektiert war, aber eine Botschaft? - Da setze ich ein Fragezeichen. Es ging mir um eine Klarheit, von der ich hoffte, dass sie provozieren würde. Das heisst, sie musste nicht überzeugen, sondern provozieren, indem sie demonstrativ auf Verschleierung verzichtete. Da kommt mir die Neonarbeit von Bruce Nauman in den Sinn, der schon früh ein wichtiger Leuchtturm meiner Bildung war. Er hat 1967 in der Form einer spiralförmigen, leuchtenden Neonreklame den Satz «The True Artist Helps the World by Revealing Mystic Truths» in das Fenster seines Ateliers, eines ehemaligen Lebensmittelladens, gehängt. Das wurde natürlich gerne missverstanden. In einer Radiosendung hat vor zwei, drei Jahren ein Zürcher Professor der Kunstgeschichte den Satz dahingehend übersetzt, dass der wirkliche Künstler mystische Wahrheiten aufstellen würde. Aber das Gegenteil ist der Fall, der wahrhafte Künstler hilft entschleiern, «to reveal», enthüllen. Wenn etwas mystifiziert wird, wird es verschleiert; durch das Entschleiern wird eine ­Sache zwar nicht sofort klar, aber sie steht zur Disposition, man kann über sie reden. Vielleicht habe ich mich bemüht, eine klare Sprache zu entwickeln, um dem Verschleiern etwas entgegenzusetzen.

T. V.: Du hast vorhin das Gespräch über inhaltliche Fragen in der breiteren Öffentlichkeit erwähnt, das von Zeitschriften und Publikationen gefördert wurde und an dem Du auch mit Deiner Arbeit teilnehmen wolltest. Heute haben sich solche Auseinandersetzungen in andere Bereiche verlagert, und mit der Kunst werden oft Aufgaben oder Funktionen verbunden, die nichts damit zu tun haben.

G. N.: Das ist richtig und hat ja schon früh ­an­ge­fangen. Zum Beispiel ist mir der kommerzielle Aspekt der Kunst, der heute medial so im Vordergrund steht, schon lange ein Dorn im Auge. Das hat mich schon sehr früh mal aufgeregt: Ich habe zwischen 1975 und 1983 in der Bezirksschule von Aarburg Zeichenunterricht erteilt, und dazu gehörte auch Kunstbetrachtung. Das war eigentlich sehr gut, weil die jungen Leute sich auch aktiv beteiligt haben. Nur dann diese ärgerliche Frage immer am Schluss, nachdem man ­sorgfältig ein Bild oder ein Werk betrachtet und auseinandergenommen hatte: «Aber Herr Nussbaum, sagen Sie uns doch bitte: Wie hoch ist der Preis dieses Kunstwerkes?». Das war der Anlass, dass ich aus dieser Verärgerung heraus und um der Frage zuvorzukommen, eine ganze Serie von Bildern gemalt habe, auf denen nur der Preis draufsteht, damit dieses unsägliche Fragen nach dem Preis erledigt ist und man dann über Malerei und über die Bilder reden kann.

T. V.: Dein Bildvokabular ist gegenständlich und realistisch und arbeitet mit entsprechenden rhetorischen Mitteln. Eines davon ist der betonte Einsatz von Kontrasten wie positiv-negativ oder dunkel-hell.

G. N.: Das mit den Kontrasten kommt einerseits natürlich auch von meiner vorhin angesprochenen Bildung als Dialektiker, aus der marxistischen Philosophie, dem Denken in Widersprüchen. Ich glaube schon, dass das ein Element der von Dir erwähnten Klarheit ist, dass man in einem Bild erkennen kann: Da wird ein Widerspruch herausgearbeitet, kann sein hell-dunkel, kann sein positiv-negativ. Das hat mir allerdings schon sehr früh eingeleuchtet, schon im Vorkurs in Luzern, dass die Positiv-Negativ- oder Hell-Dunkel-Kontraste eine wichtige Sache sind.
Dass ich gegenständlich arbeite, wurde vermutlich verstärkt durch meine Beschäftigung mit der Fotografie. In Zürich, wo ich an der Kunstgewerbeschule die Fotoklasse besuchte, war die etablierte Kunst abstrakt beziehungsweise konkret, was ich mir eher aus Distanz angesehen und zu verstehen versucht habe. Mehr als mit den offiziellen, habe ich mich mit den weniger braven und geordneten Künstlern der «Kleinen Wahnwelten» verwandt gefühlt - der Begriff stammt von Paul Nizon.

T. V.: Kannst Du das ein wenig ausführen?

G. N.: Ausführen? Vielleicht erzählen oder aufzählen. Schon drei, vier Jahre vor 1968 kam ich als Sohn eines Bahnarbeiters, er war früh gestorben, aus dem ländlichen Freiamt nach Luzern in die Kunstgewerbeschule, und innert kurzer Zeit wurde ich mit meiner jugendlichen Unschuld im dortigen künstlerischen Biotop in einen berauschenden Strudel gerissen, und zwar innerhalb und ausserhalb der Schule. Es gab da die Bohemiens und die Beatniks, die Pop-Adepten und die Maudits, die Poeten und die Kunst-Leben-Synthetiker, die Ungehorsamen und die Träumer, die Utopisten und die Fantasten, die Mitläufer und die Aussteiger, die Übertreiber und die Untertreiber, die Jazzmusikhörer und Kinogänger, die Eigensinnigen und die Unsinnigen, die Publikumsbeschimpfer, die Beckmann- und Soutine-Kenner, die Romanikbewunderer und die Gotikanbeter, die Moravagine- und die Camus-Leser und so weiter, fast alle natürlich im Schweizer Miniaturformat. Der pessimistische Marxist Max von Moos hat mich mit seiner argumentierenden Souveränität besonders beeindruckt, aber auch ein Theatererlebnis, das Stück ‹Marat/Sade› von Peter Weiss ... Du siehst, Kontraste habe ich schon früh vorgefunden, die waren angelegt in meinem nichtakademischen Bildungsweg, und dann, nach 68 der Wunsch, mir diszipliniert die marxistische Philosophie anzueignen, der stand ja auch irgendwie im Kontrast zu meiner Affinität zu Vielfalt und Freiheit, und zu allem kam noch der Mann-Frau-Kontrast. Vielleicht mystifiziere ich hier meine Kunstinitiation, aber den Wunsch, mit dem Gegensatz «vielfältige Inputs - einfache Outputs» zu arbeiten, gibts bei mir immer noch.

T. V.: Ein anderes Mittel, das Du gerne einsetzt, ist der Witz.

G. N.: Der Witz ist nicht der Sinn der Sache, eher eine Taktik, eine Technik, um eine Kommunikation zu bewerkstelligen, damit sie überhaupt stattfinden kann. Wenn Dir eine Person begegnet und Du merkst, sie ist so bierernst und was sie sagt, bietet überhaupt keine Möglichkeit zu lachen, dann wirst Du mit diesem Menschen nicht ins Gespräch treten wollen.
Es geht auch um Verführung oder um Anmutung. In diesem Spannungsfeld - zwischen Anmutung und Zumutung - möchte ich meine Sachen platzieren. Es soll anmuten, es soll nicht per se abstossen. Das möchte ich nicht.

T. V.: Ist denn das Bild überhaupt - wie der Witz - eher ein Instrument, ein Mittel, als «der Sinn der Sache»?

G. N.: Ich vermute, ein gutes Bild ist mehr als nur ein Mittel, es ist eine Macht. Ich glaube auch nicht, dass die Abbildfunktion der finale Sinn der Bilder ist. Bilder machen Sinn, insofern wir damit verbindlich kommunizieren, aber was der eigentliche Sinn von künstlerischen Bildern ist, kann ich nicht sagen. Vielleicht liegt ihr Sinn in ihrer Persistenz. Das Bild wird sinnvoll, wenn es die Sprache hinterfragt, mit der wir kommunizieren. Wenn ich zum Beispiel in einer Wolke ein Schaukelpferd sehe, und Du siehst vielleicht ein Bild von ... Runge, sagen wir, einen Engel von Runge, dann ist diese unterschiedliche Projektion doch interessant; aber auch das Reden über das Schaukelpferd ist interessant, auch das Reden über den Engel von Runge. So gesehen ist der Sinn von Kunst nicht zuletzt, Katalysator für Gespräche zu sein. Ich glaube, es ist die Hoffnung dabei, durch die Arbeit am Bild nicht nur über das Bild oder die Kunst zu reden, sondern auch über die Dinge und Verhältnisse.

T. V.: Du blickst jetzt auf 35, 40 Jahre künstlerische Arbeit zurück. In dieser Zeit ist zahlenmässig nicht ein riesiges Werk entstanden, aber ein ungemein homogenes und konsequentes. Ich sehe zwei Grundmodelle in Deiner Arbeit: Das eine ist die Figur, die Du selber bist, und manchmal noch Deine Frau Patricia; und dann gibt es mittendrin einen Wechsel, den man zuerst gar nicht als solchen wahrgenommen hat, in dessen Folge nicht mehr die Figur das Modell ist, sondern die Weltkugel. Wie soll man das verstehen?

G. N.: Das mit dem Wechsel stimmt, diese Zäsur wird mir eigentlich erst jetzt bewusst. Es gibt in meiner Kunstproduktion der letzten 20 Jahre diese zwei Grundmodelle oder Kategorien von Modell. Dass ich mich selber als Figurenmodell gewählt habe, da waren sicher Künstler wie Bruce ­Nauman wichtig, der sich als Modell für seine Performances und Plastiken genommen hat, ohne dabei als Individuum oder Persönlichkeit aufzutreten; oder auch Pieter Laurens Mol, den Jean-Christophe Ammann früh in Basel gezeigt hat. Ich habe aber auch aus Kommoditätsgründen mich selbst als Modell genommen, das heisst hier als Vorlage. Auch habe ich Schwierigkeiten, Weisungen zu erteilen, ich habe darum auch nie Assistenten brauchen können. Ich bin ja auch nie ganz sicher, was es wird, wenn ich mit einer Arbeit anfange, und darum ist es viel einfacher, mit sich selbst zu arbeiten. Und wenn es eine weibliche Figur sein soll, ist es Patricia, sie hat die Freundlichkeit gehabt und sich da zur Verfügung gestellt. Wir konnten dann auch über die Sachen reden, sie war nicht nur Modell, oft auch Partnerin. Warum ich von den Figurenbildern abgekommen bin? Ich weiss es nicht, sicher nicht nur, weil mein Äusseres immer unansehnlicher wird. Nach der Aarauer Ausstellung Travaux publics et privés, 1997, hab ich, mit Ausnahme des zwei, drei Jahre später erfolgten Updatings der Fotoarbeit ‹Hochhaus› von 1981, fast keine Bilder mehr gemacht, die meinen Körper oder Körperteile zeigen. Vielleicht muss ich das als Rückzug interpretieren.
Und dann die fast ausschliessliche Beschäftigung mit der Weltkugel. Man redet oft von Weltbild, da kann aber nicht die Weltkugel gemeint sein, sie ist eben kein Bild, sie ist ein Modell, ein Instrument der Seefahrt und des Imperialismus, der Welt der Besitzaufzeichnung, der Entdeckungen von Europa aus. Es gibt in meiner Werkgeschichte einen deutlich auszumachenden Moment für das Erscheinen dieses Modells, nämlich 1988 die interaktive Videoplastik mit dem Titel ‹Heim-Welt›, die insofern für mich weiterführend war, als ich das Motiv Weltkugel in die Malerei übernommen habe. Die ‹Heim-Welt›, die sich schon lange in der Emanuel Hoffmann-Stiftung befindet, deren Sammlung im von Dir bis vor Kurzem geleiteten Schaulager aufbewahrt wird, war ein Versuch, dem allgemeinen Manipulator Fernsehen eine künstlerische Form zu geben, durch eine Kombination der plastisch-realen Form des üblichen Fernsehgeräts mit dem auf dem Bildschirm auffallend oft - zum Beispiel beim Vorspann zu Tagesschauen oder Wetterberichten - erscheinenden Topos der Weltkugel. Die bewerkstelligte Closed-Circuit-Installation war als medienkritische Skulptur konzipiert: Die von fünf auf einen Schulglobus gerichteten Camcordern aufgenommenen Bilder werden simultan per Kabel auf eine Gruppe von Fernsehgeräten übertragen, die ihrerseits - der Wölbung ihrer Bildschirme entsprechend - kugelförmig zusammenmontiert sind. Von den gewölbten Pseudobildern der TV-Bildschirme kam ich in der Folge auf eine Werkgruppe von Gips- oder Tonreliefs, und ausgehend von diesen Bildfindungen eben auf die geografischen Bilder, zuerst auf rechteckigen Bildträgern, später fast ausschliesslich auf runden. Gut am geografischen Thema finde ich auch die Möglichkeit, damit sehr viele Betrachter ansprechen zu können, in der Annahme, dass sie zu wissen meinen, was dargestellt ist.

T. V.: Man schaut gern und arglos darauf.

G. N.: Eben, ich will ja über etwas reden, will niemanden erschrecken im eigentlichen Sinne. Aber es sind dann natürlich doch die grossen Probleme und Kriege, die mit dem Globus angesprochen sind. Recht unerwartet hat mich das Weltmodell als Bildthema dann zu wirklich malerischen Erkundungen verführt, langsam habe ich begonnen, mich auch als Farbentdecker, als Farbauftrager zu verstehen. Das war früher nie der Fall, diese Freude an der Sinnlichkeit, am Farbwechsel, am Wissen, wie Verschiedenes einen anmuten kann, eine Farbe, eine Konstellation. Das hat mich sehr beschäftigt in der letzten Zeit. Dieses Moment von sinnlicher Arbeit und Perzeption möchte ich nicht missen. Trotzdem: es geht mir nicht nur um beglückendes Tun und um Wahrnehmung, es geht ja um mehr.

T. V.:Mich interessiert noch einmal der Modellwechsel, den Du mit dem Übergang von der Figur zur Weltkugel vorgenommen hast. Spielte da auch ein Moment der Distanznahme eine Rolle?

G. N.: Meinst Du die Distanz zum Menschlichen, Allzumenschlichen, Privaten? Flucht in die Teleskopie? Wenn eine solche Distanznahme in meiner Themenwahl feststellbar ist, war sie mir nie bewusst. Aber sie findet meiner Wahrnehmung nach in unserer Gesellschaft statt. Es gibt spürbar den Wunsch, sich zu isolieren, nichts zu tun zu haben mit Problemen oder Prozessen, an der Öffentlichkeit weniger teilzunehmen, leider auch bei mir.

T. V.: Hat sich mit den Bildmotiven auch Deine Technik verändert?

G. N.: Meine eigentlich nicht. Aber ich habe natürlich auch festgestellt, dass mit der Elektronik und der Digitalisierung eine ungemeine Erweiterung der bildschaffenden Verfahren in Gang gekommen ist, nicht primär in der Kunst, sondern in der Wissenschaft und in der Wirtschaft, in der Gesellschaft ganz allgemein. Ich hatte jedoch nie Lust, da mitzuziehen, und hab vielleicht auch aus Trotz, nebst der analogen Fotografie und der handwerklichen Herstellung von Objekten, für meine Bilder die doch eher traditionelle Technik der Ölmalerei gewählt. Natürlich hab ich die Bilder oft nach fotografischen Vorlagen komponiert, ich habe diese Vorlagen auch verformt und collageartig montiert, wie René Magritte zum Beispiel. Aber als dann Photoshop kam und diese Manipulationen alle so einfach wurden, hat mich das irgendwie gestört. Ich lasse bis heute die Finger von der computergesteuerten Bildfindung. Einfach ist nicht einfach einfach. Auch bei der Formfindung der Weltkugeln gehe ich technisch eher traditionell vor. Festland- und Meerflächen sind meist farblich voneinander abgesetzt. Diese Formen male ich zuerst auf richtige Kugeln, die ich dann nach allen Seiten gedreht fotografisch abbilde, ab und zu auch abzeichne, und diese Fotos sind mir dann Bildvorlage. Aber auch hier muss ich konstatieren, dass die Verbreitung der digitalen Bildschaffung mich überholt hat, jeder hat heute Google Earth auf seinem Computer. Aber ich werde mich hüten, mich dieses Programms zu bedienen. Ich bin nicht fundamentalistisch gegen Computerbilder und Computerkunst eingestellt, sie scheinen mir bloss ein wenig unkreativ. Ich habe ja vor 20 bis 30 Jahren auch ­vier, fünf Videos gemacht, und das Internet könnte vielleicht auch für mich eine kreativ-kommunikative Ebene werden. Aber ich habe etwas Fischiges an mir entdeckt: Ich habe Angst vor Netzen. Jedenfalls möchte ich nicht immer nur bei meinen Weltkugeln bleiben. Sehr gerne setze ich mich auch mit andern Aufgaben auseinander, zum Beispiel mit Kunst am Bau oder im öffentlichen Raum.

T. V.: Über die Jahre hinweg sind mehrere wichtige Werke aufgrund eines Auftrags oder Anlasses von Aussen ent­­standen. Auffallend dabei ist, dass in diesen Arbeiten kaum je die beiden Modelle Figur und Weltkugel vorkommen, son­­dern dass Du Dich dann in ganz andere Bereiche begibst. Ich denke zum Beispiel an die Serie der Verkehrs­tafeln oder an die Bahnhofsuhr an der Kaufmännischen Berufsschule in Baden, oder auch an die installative Arbeit ‹Rheinische ­Sym­phonie› in einem Haus, das direkt am Rhein liegt. Wieso fällt es Dir so leicht, die beiden Motive zu verlassen, sobald Du von Aussen angefragt wirst?

G. N.: Die von Dir so genannten Motive sind ja nicht die ganze Botschaft eines Werks, ebenso wenig wie es seine Technik oder seine Machart ist. Die beiden Motive Figur und Weltkugel sind Aufgaben, die ich mir selbst gestellt habe, mir selbst organisierte Fragestellungen. Wenn nun aber eine Anfrage oder Aufgabe von aussen kommt, ist das natürlich ein Erfolg.
Ob so eine Arbeit auch gut wird, kann man nicht zum Voraus sagen, aber zwei Momente tragen sicher dazu bei: einerseits eine intelligente Aufgabenstellung und eine gute Verständigung mit den Fragenden und andererseits ein gewisser Erfahrungsschatz aus der bisher geleisteten Praxis. Im Falle der Tonträgerplastik beim Wohnhaus am Basler Rheinufer trafen beide Umstände zu, ich konnte mit den Auftraggebern kreativ über den Auftrag reden, und ich konnte mich an vor längerer Zeit von mir gemachten medienkritischen Werken orientieren. Die Badener Uhr ist nicht so weit entfernt von meinen Weltkugel-Tondi, denn das analoge Zifferblatt verhält sich analog zur Weltumdrehung. Übrigens bezeichnete man bis ins 18. Jahrhundert die Weltumdrehung mit dem Begriff Revolution.

T. V.: Lass uns zum Schluss noch über das Künstlersein sprechen. Was bedeutet es für Dich und was heisst es in Deinem Fall? Als wir wegen dieses Gesprächs zusammen telefoniert haben, hast Du das Thema der Integration oder Nichtintegration als Künstler angesprochen.

G. N.: Künstler zu sein ist natürlich primär einmal lächerlich. Eigentlich hat man keine Rechtfertigung. Ich habe das Gefühl, mein Künstlersein sei nicht eine Berufung, sondern eine Notlösung. Es ist einem nicht nur wohl; man hat grosse Freiheiten als Künstler, vielleicht, aber das ist eine Pseudofreiheit. Aber man hat ab und zu auch das Gefühl, insofern überflüssig zu sein, als man zu Berufsleuten gehört, von denen es eh zu viele gibt.

T. V.: Was heisst das aber für die Frage nach der Integration oder Nichtintegration. Als Künstler, so stelle ich mir das vor, bewegt man sich wohl immer zwischen den beiden Polen. Aber man kann es ja auch ein wenig steuern, zum Beispiel, indem man eine Lehrtätigkeit übernimmt oder indem man dezidiert so etwas nicht tun möchte.

G. N.: Integration ist, glaube ich, ein menschliches Grundbedürfnis. Jeder hat sie nötig. Ich meine damit nicht Anpassung, sondern Zughörigkeit bei den Auseinandersetzungen und Diskursen, trotz allem Aussenseitertum. Für mich bedeutet Integration nicht einfach, im Gespräch zu sein, Beachtung zu finden, sondern Integration wäre, dass man selbstverständlich mitarbeiten kann. Das hab ich auch im gesellschaftlichen Leben nicht. Das Kollektiv ist ein Traum von mir, die Realität ist: Ich arbeite allein. Ich habe in den letzten zehn Jahren immer ein wenig das Gefühl gehabt, ich, das heisst meine Arbeit, sei etwas unterschätzt; jetzt aber, nach dem Meret-Oppenheim-Preis, habe ich fast eher das Gefühl, ich sei etwas überschätzt. Und der Verdacht, überschätzt zu sein, ist beängstigender und verunsichernder als der Verdacht, unterschätzt zu sein. Paradox zu dieser Einschätzung meine ich aber, wir Künstler, überhaupt die Kulturschaffenden, sollten wieder etwas selbstbewusster werden und uns wieder mehr engagieren, gemeinsam an Widerständen und an Utopien arbeiten.

T. V.: Ich stelle mir einfach vor, dass das Künstlersein eine schwierige Sache ist, nicht in Bezug auf das Kunst-Machen, sondern darauf, sein Leben zu leben. Ich hab diese Erzählung von Tschechow gelesen, die du erwähnt hast, ‹Der Bischof›. Für mich war bemerkenswert, dass er so erstaunt war, dass man ihn nicht mehr als den Peter, der er doch eigentlich auch noch war, gesehen hat, sondern immer nur als den Bischof, sogar im Sterben. Und ich hab mich gefragt, ob das auch etwas ist, worüber Du staunst, dass man als Künstler in unserer Gesellschaft so anders wahrgenommen wird als andere Menschen?

G. N.: Die Bischof-Erzählung von Tschechow hat mich beeindruckt durch ihre abgeklärte, unpathetische und trotzdem menschliche, eben vielleicht staunende Haltung zum Leben und Sterben, zum Beachtet- und Vergessenwerden. Ein wirklich grossartiges Kunstwerk in kurzer Form und lang anhaltendem Inhalt. Es gibt schon Kunstwerke, die sind echte Lebenshilfe, ohne Belehrung oder Betäubung zu sein. Ein Kunstwerk sollte in jedem, der sich damit beschäftigt, ob er es macht, geniesst, darüber redet oder darüber nachdenkt, nicht zu einer abschliessenden Erkenntnis führen, sondern zu einer Öffnung. Eben zu einer Entschleierung.

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Guido Nussbaum