Krise der Kunstkritik: Trauerspiel oder Überwindung der Auflösung?

Thomas Ott. This is the end, 1996, Repro aus dem Künstlerbuch: t.ot.t. Illustrations 1985-2001, Edition Moderne, Zürich, 2002.

Thomas Ott. This is the end, 1996, Repro aus dem Künstlerbuch: t.ot.t. Illustrations 1985-2001, Edition Moderne, Zürich, 2002.

Fokus

Die Kunstkritik, zumal die klassische Rezension, hat in den Tageszeitungen an Bedeutung verloren. Auch wenn Kunstkritik immer auch Vermittlungsarbeit bedeutet, ist das dezidierte Urteil über Kunst gegenwärtig nicht mehr gefragt. Die Gründe dafür sind vielfältig.

Krise der Kunstkritik: Trauerspiel oder Überwindung der Auflösung?

Längst vorbei die Zeiten, als sich die Kunstkritiker als Agenten der Avantgarde verstanden und je nach Gusto einen Künstler zu lancieren oder ins Abseits zu spedieren vermochten. Heute ist die moderne Kunst von breiten Bevölkerungsschichten akzeptiert. Das Interesse an zeitgenössischer Kunst ist offenkundig und als Ware kommt sie sehr gut an. Noch nie ist so viel über Kunst geschrieben worden wie heute, denkt man nur an die Internetforen sowie die Mode- und Lifestylemagazine, die ihre eigenen Kunstseiten haben. Trotz alldem wird die inhaltliche Auseinandersetzung weitgehend gemieden und die klassische Rezension tritt in den Feuilletons nur noch in marginaler Form auf. Ihre Stelle nehmen nunmehr Interviews, Previews, Porträts und Skandale ein: Geschichten eben, die möglichst viele Leute erreichen sollen. Und man frag sich, was denn die Aufgabe der Kunstkritik noch sein kann, wenn ja allein der glamouröse, medienträchtige Kunstmarkt entscheidet, was gerade ein «Hype» ist? Erübrigt sich damit Kunstkritik?

Agenturberichte  Zu dieser Situation habe ich verschiedene Kulturredaktoren schweizerischer und deutscher Tageszeitungen befragt, unter anderen Barbara Basting (Tages-Anzeiger), Hans-Joachim Müller (freier Autor für die Zeit und die Frankfurter Allgemeine Zeitung), Edith Krebs (WOZ), Claudia Spinelli (Weltwoche), Konrad Tobler (Berner Zeitung), Annelise Zwez (Bieler Tagblatt), Adrian Müller (Zürcher Landzeitung) und Gisela Kuoni (Südostschweiz). Sie alle schätzen den Stellenwert der kritischen Reflexion in Zeitungen als gering ein. Angesichts der allgemein prekären Marktlage verfügen die Feuilletons über sehr beschränkte Budgets. Sie vermögen den Diskurs kaum mehr voranzutreiben und füllen die Seiten stattdessen vermehrt mit Agenturberichten aus aller Welt.
Seit den späten neunziger Jahren erfolgten in allen grossen Medien Restrukturierungsmassnahmen. Und der Trend hält weiterhin an, denkt man nur an die soeben erfolgte Verabschiedung des langjährig erprobten und überregional geachteten Kulturchefs der Berner Zeitung, Konrad Tobler, welcher in der neuen redaktionellen Ausrichtung keine angemessene Plattform mehr für Kultur ausmachen konnte. Oder dem kürzlichen Rückzug der WOZ-Kulturredakteurin Edith Krebs, welche im mittlerweile sehr mageren Kulturteil der Wochenzeitung - drei Seiten pro Woche - kein fruchtbares Betätigungsfeld mehr findet. Auch bei der Weltwoche wird zunehmend gekürzt und in der Südostschweiz konstatiert die Autorin Gisela Kuoni seit längerer Zeit einen schleichenden Abbau. Bei der Zürcher Landzeitung ist vor kurzem dreissig Prozent des Budgets für die Kulturseite gesenkt worden und im Bieler Tagblatt wurde das Personal von hundertsechzig auf hundert Prozent reduziert. Und wie sieht es im Tages-Anzeiger aus? Hier umfasste das Team der Kulturredaktion vor vier Jahren vierzehn Leute - heute sind es noch acht. Dass bei solchen Streichungen der Produktionsdruck enorm zugenommen hat, braucht wohl nicht speziell erwähnt zu werden.

Nur noch personelle Dramen  Mit diesen Restrukturierungsmassnahmen war auch ein Generationswechsel verbunden, etwa bei der FAZ, der Zeit oder der Basler Zeitung. Die Texte der neu zugezogenen Medienleute haben sich an ein breites Publikum zu richten, und insbesondere die Jugend wird vermehrt mit Berichten über Events angesprochen. Diese Umschichtung der Themen verleitet selbst «Die Zeit» dazu, Interviews auf Kosten von Rezensionen den Vorzug zu geben. Was Wunder, dass kunstkritische Besprechungen immer mehr von Lifestyle-Rubriken vereinnahmt werden. Während in der Berner Zeitung einmal pro Woche ein Showtime-Bund mit Events erscheint, setzt das Bieler Tagblatt auf Popularisierung und die Weltwoche auf Polemik. Damit einher geht bei den meisten Zeitungen eine verstärkte Ausrichtung auf das Regionale. Solche Trends kann Eliane Baumann vom Bundesamt für Kultur (BAK) nur bestätigen. Auch sie ist der Meinung, dass klassische Rezensionen nicht medienträchtig sind und nur noch personelle Dramen Anklang finden. Als Beispiel erwähnt sie die spektakuläre Geschichte um den Rücktritt von Andreas Furger vom Landesmuseum.
Um die Kunstkritik in den Tageszeitungen scheint es also schlecht bestellt und die Krise ist nicht zu übersehen. Diese haben nicht zuletzt die Kunstkritiker selbst mit verursacht ? mit mehrheitlich affirmativen, oft schwer verständlichen Berichterstattungen. Da die wenigsten von ihren Berichten leben können, sind viele Autoren gezwungen, gleichzeitig als Kuratoren zu fungieren, Katalogtexte zu schreiben oder Sammler zu beraten. Umgekehrt haben Kuratoren nach und nach die Rolle der Kunstkritiker eingenommen, sind Gesprächspartner und Berater der Künstler und dies mit einer klar subjektiven Haltung. Dass mit dieser Interessensverquickung oft nicht mehr die notwendige Distanz hergestellt werden kann, die zum Verfassen von kritischen Texten notwendig ist, versteht sich von selbst.
Vergleichsweise unabhängig erachtet da Hanno Rauterberg, Feuilletonredaktor der Zeit, diejenigen Künstler, welche die Vorbedingungen der Kunst hinterfragen und damit selbst in die Rolle der Kritiker schlüpfen. Und möglicherweise hat auch der Paradigmenwechsel der neunziger Jahre zur Marginalisierung der Kunstkritik beigetragen. Der damalige Versuch, das Spezialistentum abzubauen und ein breiteres Publikum zu erreichen, bewirkte eine Ausweitung des Kulturbegriffs bis zur völligen Verwässerung. Angesichts dieses Trümmerhaufens bleibt uns nur übrig, mit Eduard Beaucamp (FAZ) darauf zu vertrauen, «dass das Ausstellungsangebot älterer Kunst, das von Jahr zu Jahr gewaltig anwächst, für alle Beteiligten, die Künstler, die Kunstgeschichte und die Kunstkritik neue Perspektiven der Kunstbewertung erbringen wird.» Das Neue kann sich bekanntlich nur einstellen, wenn man das Alte loslässt, und in diesem Loslassen «...wird Kritik vielleicht beweglicher und agiert weniger konventionell, wenn sie die Angst vor ihrer Auflösung überwindet.», wie Thomas Wagner (Die Zeit) zu Recht argumentiert.

Barbara Basting, Tages-Anzeiger  Bis weit in die Postmoderne hinein hat Kunstkritik in der Tageszeitung die Rolle der Schiedsrichterin gespielt. Die Ausweitung des Kulturbegriffs hat Macht und Anspruch solcher Autoritäten stark in Frage gestellt. Die Kunstkritik in Publikumszeitungen tendierte seither zum illustrierten Ausgehtipp. Das macht sie freilich beliebig und austauschbar. Angesichts der Krise der Printmedien, die mit einer Beschränkung von Platz und personellen Kapazitäten einhergeht, hat sie künftig wohl nur noch dort eine Chance, wo sie versucht, Kunst in Bezug auf übergreifende gesellschaftliche Zusammenhänge zu situieren.

Gerhard Mack, NZZ am Sonntag  Die Kunstkritik hat in der gegenwärtigen Kunstszene grosse Teile ihrer Bedeutung eingebüsst. Viel wichtiger sind Sammler und Händler geworden. Dieser Wandel spiegelt sich in den Möglichkeiten, über Kunst in einer Zeitung zu berichten. Es gibt in der «NZZ am Sonntag» keine inhaltlichen Vorgaben, aber der Platz, der in einer Wochenzeitung zur Verfügung steht, ist von vornherein begrenzt.
Die Themen stehen in Konkurrenz zueinander.

Françoise Jaunin, 24 Heures  Je dois reconnaître que même si la place réservée a incontestablement été réduite (en parallèle à celle des autres rubriques), je ne peux pas dire que la place dévolue à la culture doit devenue insignifiante. En plus de la partie culturelle quotidienne, nous avons aussi un supplément culturel le jeudi pour lequel j´écris chaque semaine une double page sur une exposition qui offre plus de place tant au texte qu´aux images. Jusqu´à un certain point, la passion, l´engagement et la ténacité du ou de la critique d´art sont déterminants. Je pourrais écrire moins sans qu´on me le reproche. Par contre, je pourrai difficilement écrire plus: d´abord je n´y suffirais pas et ensuite le journal ne pourrait pas suivre. Je suis donc constamment en train de jouer les «marchandes de tapis», négociant par rapport aux articles «incontournables» pour notre journal, des articles que personne ne me demande vraiment, mais qui me paraissent nécessaires, utiles ou intéressants. 24 Heures a une vocation d´abord vaudoise, mais la culture ne s´arrête pas aux frontières cantonales.
Je crois qu´il faut tenir compte aussi d´un autre phénomène: Il y a de moins en moins de journaux, la place culturelle y a été réduite, et pendant ce temps l´offre culturelle a littéralement explosé.

Emmanuel Grandjean, Tribune de Genève  Il est vrai que la critique d´art, telle qu´on l´entendait au XIXe siècle, a disparu depuis une vingtaine d´années. Les raisons? Pour les directeurs de la presse quotidienne, le journal doit avant tout informer le public. Surtout dans le domaine de l´art contemporain, sujet considéré comme hautement élitiste. La vision de l´art doit être la plus large possible. Et le critique doit se transformer en vulgarisateur.

Hans-Joachim Müller, freier Autor  Kunstkritik? Stirbt sie noch oder ist sie schon tot? Mag sein, dass sich da und dort ein paar zähe Exemplare erhalten haben. Sie werden die entkräftete Gattung nicht wieder beleben. Kunstkritik hat Ruh´.
Kunstkritik, immer schwankend zwischen emphatischem Plädoyer und höchstrichterlichem Urteil, hat ihre jurisdiktive Zuständigkeit längst aufgegeben. Wer heute über Kunst schreibt, hat es mit einem Medienmarkt zu tun, in dem sich der kritische Jargon so kurios ausnimmt wie eine Fünfzigerjahre-Show mit Caterina Valente. Was soll über die Sache Kunst weiter gestritten werden, wenn sich niemand mehr für die Sache interessiert, wenn sich alle nur noch für die Leute interessieren, die für die Sache stehen?
Über Kunst schreiben, heisst über Künstler schreiben. Über Erfolgsmenschen, Erfolgsbiografien, Erfolgsstrategien. Gerade die Gegenwartskunst, dargeboten wie ein Massen-Event, bietet ein unerschöpfliches Reservoir an Ausnahmebeispielen, die den tröstungsbedürftigen Zeitgenossen mit seinem Massenschicksal versöhnen. Jede Epoche sucht ihre Superstars, die den Stoff liefern für die unstillbaren Aufstiegsphantasien. Nun ist es die junge Kunst, welche die unwahrscheinlichsten Geschichten erzählt. An solchen Geschichten ist ein Riesenbedarf. An immer neuen Frontberichten von der endlichen Auflösung des Kunstbetriebs in seine handelnden Figuren.
Dass sich die Kunst mehr und mehr dem populären Vergnügen andient und der Umgang mit ihr zum kritikunbedürftigen Brauchtum der jungen urbanen Eliten geworden ist, heisst nichts anderes, als dass Kritik von ihrem eigenen Gegenstand verlassen, gleichsam aus dem Dienst entlassen worden ist. Heisst aber vielleicht nicht, dass darüber die alte diskursive Aufgabe vollends unsinnig geworden wäre. Dass es in der Kunst möglicherweise nicht nur um Hype, Markt und Stars geht, dass es mitunter auch etwas zu verstehen gibt, das zu zeigen, würde sich schon noch lohnen. Nur, wer soll es jetzt noch zeigen, wenn die paar zähen Exemplare der entkräfteten Gattung längst dabei sind, zum Gesellschaftsreporter umzuschulen?

Hanno Rauterberg, Die Zeit  Kunstkritik leidet am H-Milch-Syndrom: Sie ist oft homogenisiert und völlig geschmacksneutral. Damit schadet sie der Kunst. Denn nichts ist schlimmer als wohlwollende Gleichgültigkeit. Kunst braucht Bewertung, Debatte, streitbare Auseinandersetzung, sie braucht die Reibungswärme der Kritik.

Thomas Wagner, FAZ  Die Klage, es werde in überregionalen Tageszeitungen weniger als noch vor einigen Jahren über Kunstausstellungen berichtet, ist ebenso berechtigt wie heuchlerisch. Richtig ist, dass die täglich zur Verfügung stehenden Umfänge geschrumpft sind und sich das Leseverhalten, was Informationen über Ausstellungen angeht, verändert hat. Darüber mag man klagen. Doch geschieht dies selten interesselos, sind es doch oft genug jene, die ihren Institutionen und den dort gezeigten Ausstellungen möglichst viel öffentliche Aufmerksamkeit sichern wollen, die nun gleich um die Kunst selbst fürchten. Wenn es weniger Ausstellungssbesprechungen gibt, so liegt darin auch eine Chance für die Kritik. Sie hängt nun weniger am Betrieb und kann selbst Themen setzen.

Annelise Zwez, Bieler Tagblatt  Die noch stärkere Konzentration des Bieler Tagblattes auf die Region, hat auch die täglich erscheinende Kulturseite bezüglich Eigenberichten weitgehend zur Regionalseite werden lassen. Obwohl das traditionelle Feuilleton bisher nicht verschwunden ist, führt das Bemühen, die Jugend anzusprechen, zu einer Umschichtung der Themen. Die Ausrichtung auf ein breites Publikum, bringt überdies Texte auf die Kulturseite, die nicht immer Feuilletonqualität haben. Zudem werden die Seiten mangels ausreichendem Korrespondenten-Budget mit Agentur-Berichten aufgefüllt. Grundsätzlich ist eine Popularisierung und eine Reduktion von Texten zur bildender Kunst - zugunsten von Pop, Rock, Film etc. - festzustellen.

Claudia Spinelli, Weltwoche  Die Kunstkritik wird mehr und mehr aus den Feuilletons der Tages- und Wochenzeitungen in die Fachpresse verdrängt. Dadurch geht etwas ganz Wichtiges verloren: die Reibung mit der Gesellschaft und ihren Werten. Kunst und Kunstrezension als reines Insidergeschäft kann nicht das Ideal sein.

Zum Thema erscheint 2007: «State of Art Criticism», ed. by J. Elkins, M. Newman, vol. 4, The Art Seminar, NY, Routledge.

Siehe auch Guest-Talks zu «(kunst)kritik? oder gossip!» an der F + F Schule Zürich.

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