Editorial
Editorial
Unter Bannern versammeln sich Gleichgesinnte, Fahnen stiften Identität und machen Nationen kenntlich. Während sie in unseren Breitengraden in erster Linie an nationalen Feiertagen, auf Berghütten und in Schrebergärten im Wind flattern, kommt ihnen beispielsweise in Südamerika eine weit grössere Bedeutung zu. So sind Bürger/innen in Mexiko verpflichtet, eine an einer Parade vorbeigetragene Nationalflagge zu salutieren. Deren Form ist im Gesetz festgelegt. Ebenso streng ist das dazugehörige Flaggenprotokoll definiert: Es regelt, wann und wie eine Fahne gehisst oder eingezogen, gefaltet und verstaut wird. Nationalflaggen sind Machtinstrumente. 1999 begann Mexikos damaliger Präsident Ernesto Zedillo im ganzen Land gigantische, bis zu 25 m breite Flaggen zu hissen. Spätestens angesichts dieser ‹banderas monumentales› wird klar, dass mit deren Grösse das Fehlen staatlich garantierter öffentlicher Strukturen, Dienstleistungen und Sicherheiten kompensiert wird.
Wenn die in der Schweiz lebende mexikanische Künstlerin Ana Roldán in der Serie ‹Latin American Flags› in einem Souvenirshop fünf billige südamerikanische Fahnen kauft und jede anders zusammenfaltet, begeht sie vor diesem kulturellen Hintergrund ein vielfaches Sakrileg. Sie reduziert die Flaggen auf reine Farbflächen und lässt sie auswechselbar werden. Zentrale Motive wie der Adler und die Schlange für Mexiko, die Himmelskugel für Brasilien, die Sonne für Uruguay oder der Stern für Chile sind nicht mehr sichtbar. Stattdessen mutieren die symbolträchtigen Teile zu textilen Collagen, losgelöst von jeder Signifikanz. Und doch, gerade in dieser Entleerung - als ästhetische Spielerei, fixiert hinter Glas - verweisen sie auf ihre politisch-historische Kraft.
Claudia Jolles |
Ana Roldán |