«lautloses irren, ways of worldmaking, too» im Postbahnhof

Pipilotti Rist · Apple Tree. Innocent on Diamond Hill, 2003, Videoinstallation

Pipilotti Rist · Apple Tree. Innocent on Diamond Hill, 2003, Videoinstallation

Besprechung

Die Ausstellung entsprang einem Erweckungserlebnis des Kurators Harm Lux und mündete in eine Suchbewegung mit Buch, Ausstellung und Symposion.

«lautloses irren, ways of worldmaking, too» im Postbahnhof

Durch den facettenreichen Blick von 27 Künstlern, acht Schriftstellern und acht Wissenschaftlern skizziert Harm Lux ein Unbehagen an der Gegenwart. Dabei zeigt er fast ausschliesslich Video-Projektionen, verzichtet aber auf separate Dunkelkammern, um in den fliessenden Übergängen paralleler Zeitspielräume die Aufmerksamkeit auf Bilder im Halbdämmer zu lenken. Deshalb erscheinen die Werke als Indizien. Es ist keine Thesen-Ausstellung, sondern eine Kunst, Literatur und Wissenschaft verschränkende Recherche, die einer Stimmung Kontur geben will. Darin liegt ihre öffentliche Legitimation.

«Über Jahre habe ich die Entwicklungen meiner Neigungen kultiviert», schreibt Lux, «stets auf der Suche. Und dann, von einem Tag auf den anderen, stellte sich ein Gefühl der Entfremdung ein. Fast zur selben Zeit nahm ich in meiner Umgebung ein Zittern wahr. Fängt hier das lautlose Irren an?»

Die Recherche setzt auf Erfahrung und dazu gehört Zeit. Deshalb dauert die Ausstellung so lange wie ein Kinofilm: mindestens eineinhalb Stunden. Nicolas Moulin (*1970, Paris) zeigt fünfzig Dias von Paris, dessen Ansichten er am Computer derart manipuliert hat, dass dort, wo Menschen und Autos waren, nur Beton und saubere Strassen sind. Paris erscheint wie eine wehrhafte Modellstadt: leblos, monumental und von hohem Bildreiz. Aernout Mik (*1962, Groningen) ist mit dem zum Klassiker avancierten «Middlemen»-Video von 2001 beteiligt, in dem Broker im Börsenraum nach einer Baisse ratlos, zuckend, stumm auf den Display starren. Direkt daneben wiederholt ein junger Mann unablässig die Toleranz-Zeile aus dem Koran: «Euch euer Glaube, und mir mein Glaube» Shahryar Nashat (*1975, Zürich). Dahinter projiziert Clemens von Wedemeyer (*1974, Berlin) ein Video über Zuschauer an unübersichtlichem Drehort mit dem Untertitel: «Was glaubt ihr eigentlich, was hier gedreht wird?»

Der Kurator kommentiert durch Platzierung. Die Konstellation Stadt-Börse-Glaube-Wissen öffnet einen Denkraum von Vermutungen, keine Erkenntnis. Pipilotti Rist (*1962, Zürich) sorgt im letztem Raum mit grossem Schattenmobile für Entspannung und bringt durch den Titel «Apple Tree. Innocent on Diamond Hill» neben subjektivem Bezug weite Assoziationsbogen ins Spiel (Ursprungsmythos, Platons Höhle, Luthers Apfelbäumchen, Apokalypse), derweil Lonnie van Brummelen (*1969) von ihrem Wohnort Amsterdam eine Kreideskulptur zu Fuss bis nach Lascaux schleift und eine Spur markiert. Die Vermutungen münden hier in eine Meditation über Anfänge und Enden. So auch mit Harmen Brethouwers (*1960, Zeist) grandiosem Mandala, welches Ende und Anfang als Idealkonfiguration in eins gesetzt hat. Nach der Passage durch eine helle Schleuse von William Speakman (*1968, Breda) steht man abrupt wieder in der Berliner Nacht. Der Raum des Überzeitlichen und Unpolitischen öffnet sich zur Stadt als vierter Dimension. Die Schau derealisiert die Wahrnehmung wie ein Traum. Eine Kritik müsste mit Vorschlägen zum Erwachen ansetzen. Mit Katalog.

Until 
01.02.2004

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