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Kader Attia — Wie umgehen mit den kolonialen Narben?

Zürich — Verschwundene Körper, doch der Boden bedeckt mit von den Wellen angeschwemmten Jeans, Pullis und Schuhen in verschiedenen Blautönen – so übersetzt der Künstler Kader Attia (*1970) in ‹la mer morte›, 2015, das Meer als raumfüllendes, installatives Kunstwerk. Mit diesem ausdrucksstarken Mahnmal deutet er hin auf Flucht als Folge von Krieg, Kolonialismus und Ausbeutung. Seine Erfahrungen der Mehrfachzugehörigkeit bilden denn auch das Fundament seiner bildnerischen Praxis. Am Rande der Metropole und mitten im sozialen Brennpunkt, ist Kader Attia nördlich von Paris in der Banlieue Saint-Denis als Kind algerischer Eltern geboren und aufgewachsen. In der Ausstellung ‹Remembering the Future› im Kunsthaus Zürich setzt sich der Installationskünstler und Fotograf mit Verletzung und Reparatur auseinander und greift gleichzeitig die viel diskutierte Frage der Restitution afrikanischer Artefakte auf.

In der neuen Videoinstallation ‹Les Entrelacs de l’Objet›, 2020, scheinen die Objekte eine eigene Position zu beziehen. Sie erhalten eine Präsenz sowie eine Plattform und werfen Schatten auf die Projektionsfläche, auf der zu sehen ist, wie über sie debattiert wird. Die aus Kunststoff mittels 3D-Drucker sowie aus Holz geformten Repliken, die nie in Ritualen verwendet wurden, führen dem Publikum die Ambivalenz der Restitutionsthematik konkret vor Augen. Einige der aktuell wichtigsten und wegweisendsten Denker*innen in diesem Diskurs, darunter Felwine Sarr, El Hadji Malick Ndiaye und Bénédicte Savoy, werden gezeigt, wie sie über die Objekte diskutieren, die nicht in Europa entstanden sind und deren Relevanz so oft im Unsichtbaren liegt. Sie erörtern, wie Objekte gar zu Subjekten werden oder durch rationale, westlich geprägte Aneignungsprozesse als Kunstwerke eine veränderte Bedeutung erhalten. Für Kader Attia ist klar, dass die Restitutionsdebatte ein Wissenschaftsverständnis voraussetzt, das es noch nicht gibt. Dafür müsste unter anderem die westliche Wissenschaft entkolonialisiert, der diskursive Austausch mit Institutionen weltweit geführt und entsprechende Spezialabteilungen für Restitution an Universitäten und in weiteren Organisationen geschaffen werden.

In einem anderen Raum zeigt Attia wie durch die Wiederaneignung einstiger Unterdrückungsinstrumente und das Modifizieren ihrer Bedeutung mehr als Recyclingkunst entsteht, wie sie zur gängigen Praxis in vielen Ländern Afrikas gehört. Vielmehr gelingt ihm mit ‹Indépendance Tchao›,2014, eine Reappropriation von Sprache und Ästhetik sowie eine materielle und beseelte Verbindung zwischen den postkolonialen Städten Algier und Dakar, die vom Gestern bis ins Heute reicht. Leere Karteikästen stapeln sich fast bis zur Decke. Beinahe verborgen bleibt die Tatsache, dass der Geheimdienst während des algerischen Unabhängigkeitskrieges in den Archivboxen Informationen über Widerstandsleistende aufbewahrte. Es fällt schwer, die fehlenden Inhalte nicht auf die ausbleibende Handlungsmacht der Bürger*innen des Landes zu beziehen. Den imposanten Turm ziert die Überschrift «Hotel Independance». Tatsächlich erinnert die Skulptur an das gleichnamige und in Vergessenheit geratene Gebäude in der senegalesischen Hauptstadt Dakar, das nach dem Erlangen der Unabhängigkeit von der französischen Herrschaft gebaut wurde – Ironie und Absurdität zugleich. Attia kritisiert dabei sowohl die nur scheinbare Unabhängigkeit ehemaliger Kolonialstaaten wie auch Le Corbusier, als einer der einflussreichsten Architekten des 20. Jahrhunderts, der die westliche, moderne Architektur prägte, doch der seine Inspirationsquellen aus dem afrikanischen Kontinent nie offen legte.

Kader Attias skulpturalen Werke, Filme und Fotos werden in sieben aufeinanderfolgenden Ausstellungsräumen gezeigt. Nachhaltig eingraviert bleiben die Erinnerungen an bedrückende, gewalttätige Auseinandersetzungen in den aus hundertjährigen Hölzern geschnitzten Porträts, welche die entstellten Köpfe von Soldaten aus dem ersten Weltkrieg zeigen, und die auf Metallsockel gehoben wurden, um ihnen eine (über)menschliche Dimension zu verleihen (‹Culture, Another Nature Repaired›, 2014–2020). Der Künstler konfrontiert die Betrachtenden schonungslos mit der Brutalität und Aktualität von Krieg und der kolonialen Vergangenheit Europas und ihren Folgen. Gleichzeitig bietet er einen Reflexionsraum, der eine eigene Positionierung zulässt. Dass er dabei die Narben von Schwarzen (1) Menschen auf unterschiedliche Weise inszeniert und der Frage nach Formen und Grenzen möglicher Wiedergutmachung nachgeht, untermauert die Brisanz und Relevanz der Thematik. In der Podiumsdiskussion vom 13. September 2020 im Kunsthaus in Zürich beschrieb er die alltäglich gewordene Informationsflut als Falle, in der sich die Tragik des Diskurses verflüchtigt. Vielleicht hat der Künstler deshalb am Schluss der Ausstellungsräume einen Spiegel platziert und fordert die Besucher*innen auf, sich darin zu betrachten. Aufdringlich unaufgefordert stellt sich hier die Frage, was sehen wir? Wie gestaltet sich der immer dringlicher werdende und notwendige Perspektivenwechsel?

(1) Das „S“ wird grossgeschrieben, da es sich nicht auf ein Adjektiv sondern eine politische Selbstbezeichnung bezieht.

Pascale Gähler MA Art Education - Kulturpublizistik

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Kader Attia

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Kader Attia - Esposizione Zürich Svizzera
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