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DE - Die Bildersäle der Renaissance, in der sich die Fürsten jeden Quadratzentimeter Wand und
Deckenfläche mit repräsentativen Darstellungen von sich und ihren Familien, von ein paar
griechischen Gottheiten und nackten Frauen vollmalen ließen, „all der gerühmte Marmorschrott“
dieser „steinernen Körpergalerien, die uns bis jetzt das Fleisch verformen hilft, wäre uns erspart
geblieben“, schreibt Klaus Theweleit in seinem Buch der König, „hätten die Spiegelmacher sich ein
bisschen beeilt“. Seiner Behauptung liegt eine luzide Spekulation zur Mediengeschichte zu Grunde:
In Jericho vor zehntausend Jahren mussten sich noch die Menschen übers Wasser beugen, um ein
„zerfließendes, schon von ihrem Atem bewegbares Bild von sich selbst zu erblicken“. Erst im Land
der Perser, Ägypter, Juden und Griechen finden die Archäologinnen dann die ersten polierten Scheiben
aus Metall und Gold, in deren Sonnenglanz sich vage das eigene Gesicht erahnen ließ. Doch bis
zur Erfindung großräumiger Spiegel der Neuzeit sei es neben dem symmetrischen Tanz die bildende
Kunst gewesen, die das Bild des Menschen zur Gesamtheitsvorstellung eines Körpers fügen sollte.
Sie hatte nicht nur darzustellen, wie, sondern überhaupt erst zu vergewissern, dass sich Auge,
Hasenscharte, Torso und Kleid zum Körperzusammenhang eines repräsentativen Ich verbinden:
Männer und Frauen in starren Haltungen anästhetisierter Gliederverbindungen.
Mit dem Ende der Renaissance sei nun „das Äußere des europäischen Körpers, an dessen
Entwurf und Herstellung die Malerei seit 300 Jahren maßgebend gearbeitet hat“, nicht nur
„fertig“ – solche Funktionen der Körperkonstitution übernehmen von nun an ohnehin die jetzt
technisch möglichen Großflächen der Spiegel: Zwischen den Allegorien von Krieg und Frieden
erstreckt sich an den Versailler Wänden kein gerahmtes Porträt, sondern ein 1/16000 Millimeter
dicker Silberhauch hinter Glas, der exakter als jeder Hofmaler den majestätischen Glanz des
Sonnenkönigs als ein totales Herrscherbild zu reflektieren vermochte. Von nun an können Bilder,
so schließt Theweleit, endlich von ganz neuen Körperzusammenhängen träumen
– von ausscherenden Affektlinien, von Gefühlen aus Pigment, von Korallenhänden, von neu
verschalteten Organen, von Taillen aus Licht und Basecaps auf Knien. Friedrich Kittler hatte bereits
einen ganz ähnlichen Zusammenhang nachgezeichnet. Ihm zufolge musste der Dichtung mit der
Entstehung der ersten Phonographen nicht länger die Aufgabe zukommen, mit einer phantasmatischen
Stimme die Kohärenz und Bedeutung sprachlicher Äußerungen zu garantieren. Weil sich
seit dem alles Gesagte aufnehmen und endlos wiederholen ließ, konnte sich nun die Literatur dem
Rauschen jenes Unsinns Namens Sprache widmen und auf ein ganz anderes Genießen jenseits der
Lebenserzählungen des Sinns öffnen – Stottern, Jauchzen, zufällige, aber immer wieder vielversprechende
Buchstabenreihen auf einer Tastatur: qwert. Und so liegt vielleicht in der Medialität jeder
vom
Gebrauchs- wie Kunstwert befreiten Reliquie ein Möglichkeitsraum neuer, ephemerer Sinnlichkeiten,
seit die Computer ins gemeinsame Gespräch von 1 und 0 versunken sind und uns nur hin und
wieder zur Selbstvergewisserung den Sinnesoutput längst überholter Medien liefern.

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