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Hans-Joachim Müller: Wie fängt man als Maler ein Bild an, wenn
man bei jedem neuen Bild weiss, dass doch immer schon alle
Bilder gemalt worden sind?

Rolf Winnewisser: Wenn man so beginnt, dann kann es nicht
funktionieren. Man muss versuchen, das Bild von einer anderen
Seite zu packen. Die Voraussetzung, dass alle Bilder schon gemalt
sind, lässt kein neues Bild entstehen. Es ist jedoch in der Tat ein
Dilemma. Ein Dilemma, das ich für mich löse, indem ich das
Beginnen als Risiko verstehe, nicht einfach ein neues Bild hinzuzufügen,
sondern eine Art Autopsie des Bildes in Gang zu
setzen. Die Voraussetzung, dass alles schon gemalt worden ist,
schliesst nicht aus, diesen Bogen zu brechen; oder wie es z.B.
bei Manet so gut zu sehen ist, wie er sich von alten Meistern inspirieren
lässt, um dann diese Einsichten in einen neuen Kontext
zu setzen und so eine neue Sichtweise zu initiieren. Das eine ist
Wissen und Erfahrung, das andere ist Neugier, Intuition. Die
Neugier am Bild, die hört genauso wenig auf wie die Tatsache,
dass dem Bild immer schon Bilder vorausgegangen sind.

Hans-Joachim Müller: Sind Sie früh mit Bildern in Berührung
gekommen, mit Bildern aufgewachsen?

Rolf Winnewisser: Als Kind habe ich natürlich schon immer
gerne gezeichnet. Und eine meiner Lieblingsbeschäftigungen
war es, Zeitschriften durchzublättern und die Bilder anzuschauen,
vor allem die Fotos in Illustrierten. Daneben erinnere
ich mich an einen Bildband mit Zeichnungen und Skulpturen
von Michelangelo, der in der Bibliothek meiner Eltern stand.
Ein Buch über den Expressionismus, zu Weihnachten geschenkt
bekommen, war eine der ersten Quellen, wo ich die Spannung
zwischen Abbild und Darstellung mit den Verdrehungen und
Steigerungen des Ausdrucks spürte. Das Bild als Phänomen
und Ausdruck einer Zeit. Für meine Arbeit ist es eine grundlegende
Erfahrung geworden, dass man immer im Bild drinnen
ist, dass es nie wirklich ein aussen zum Bild gibt. Bilder sind
ja eine ganz weiche Materie; das ist das Grossartige, dass man
aus dieser weichen Materie noch eine Welt definieren, eine Welt
konstruieren oder eine Welt in Frage stellen kann.

Hans-Joachim Müller: Immer geht es in Ihrer Malerei auch um
die Frage der Malerei an die Malerei, um die Frage des Bildes
ans Bild. Kann man sagen, dass diese Verhältnisbestimmung
zur eigenen Arbeit Ihr Werk von Anfang an bestimmt und geprägt
hat?

Rolf Winnewisser: Vielleicht nicht ausdrücklich, oder besser:
Vielleicht ist das nie Vorsatz und Absicht gewesen. Ich habe
mich als Maler immer für die mich umgebenden Bildwelten interessiert
und für die Rolle meiner Bilder in diesen Bildwelten,
als Dialog, oft auch hadernd damit. Da diese Bildwelten ja nicht
statisch sind, hat man es immer wieder mit Bildwahrnehmungswechseln
zu tun. Malerei der Malerei war meine Sache nie. Die
Ausweitung des «Bildes» als Begriff und Gemälde ist eher meine
Spur; Bild als Diagramm des Denkens und Empfindens. Das,
was im einen Augenblick noch etwas schwammig aussieht, kann
im nächsten Augenblick, oder wenn man es näher untersucht,
ganz kristallin werden, scharf und verletzend. Das sind die
Momente, die Bilder besonders spannend machen, wenn die
Wahrnehmung ein wenig desorientiert wird und das, was eindeutig
zu sein scheint, plötzlich ganz anders erscheint und nicht
mehr so klar ist.

Hans-Joachim Müller: Man könnte meinen, solches Nachdenken
über das Bildermachen schliesse die Erfindung der Bilder aus.
Hat das klassische Verständnis von Bilderfindung für Sie noch
eine Bedeutung?

Rolf Winnewisser: Das Finden gibt es schon noch, denke ich.
Auch wenn man dem Bild ansieht und ansehen soll, dass es gemacht
worden ist, ist doch noch viel in ihm enthalten, was man
mit Findung und Erfindung beschreiben könnte, etwas, das es
zu entdecken gibt, aufzudecken, als Öffnung auf etwas Unvorhergesehenes
hin. Ich habe eher die Erfahrung gemacht, dass
man auf der Suche nach etwas ist und etwas ganz anderes findet,
als man eigentlich gesucht hat. Hierher gehört für mich der
Begriff «Serendipity», was soviel heisst wie Entdeckungen von
Dingen zu machen, die man nicht gesucht hat, sei es durch Zufall
oder Gewandtheit. Dieses Immer-unterwegs-Sein, Immerauf-
der-Suche-Sein, das ist elementar. Man findet keine neue
Insel. Die Insel gibt es schon. Und die, die man sucht, die findet
man vielleicht gar nicht, man findet halt eine andere. Man beschäftigt
sich über lange Zeiträume mit einem Thema, setzt die
Versuchsanordnung immer wieder neu an, entwirft und verwirft
wie ein Forscher oder ein Mathematiker. In solcher Analogie
sehe ich mich als Maler. Man bringt Vorstellungen mit,
Voraussetzungen, man macht sich auf die Suche, macht Erfahrungen,
man hebelt irgendetwas aus, was man schon kennt,
setzt etwas auseinander, was im normalen Gebrauch anders
zusammengesetzt ist, man bearbeitet eine bestimmte Materie,
und dann - im besten Fall - findet man etwas und erfindet etwas
und wird von seiner Erfindung in irgendeine neue Richtung
gelenkt. Man trennt Gleichzeitigkeiten und führt Ungleichzeitiges
zusammen. Und wenn es gut geht, hat sich das Problem
von selbst gelöst oder verweist auf eine weitere Sichtweise.

Hans-Joachim Müller: Was Sie beschreiben, sind Prozesse hoher
Bewusstheit, Bildprozesse, die gedanklich begleitet werden.
Welche Rolle spielt in Ihrer Malerei die Spontaneität? Wie wichtig
sind Ihnen Prozesse, die man nicht so steuern kann?

Rolf Winnewisser: Die Aufmerksamkeit, das ist wichtig, ist immer
da, sollte da sein. Nur klickt es nicht immer, springt der
Funke nicht immer gleich über. Da kann man nichts machen,
nichts beschleunigen. Ich habe auch die Geduld meiner eigenen
Arbeit gegenüber lernen müssen. Bildforschung schliesst nicht
aus, dass manches beim Malen aus Verzögerung oder aus Überschuss
entsteht. Man beobachtet, wie das entstehende Bild in
der Zeit hängt, und merkt zugleich, wie man selber nicht aus
der gegebenen Zeit, aus seinen eigenen Möglichkeiten oder Unmöglichkeiten
heraus kann.

Hans-Joachim Müller: Ihre Arbeit hat, so scheint es, auch etwas
Inwendiges, als ob sich die Bilder vor der Welt abschlössen. Jedenfalls
ist nicht immer gleich ersichtlich, wie viel Aussenwelt
in sie eingeflossen ist.

Rolf Winnewisser: Ja, wie soll man es beschreiben? Vielleicht
findet eine Art Verdichtungsarbeit statt, die das, was die Aussenwelt
an Problemstellungen bietet, zusammenzieht und konzentriert.
Ich nehme wahr, registriere, und was ich wahrnehme
und registriere, das bleibt in einem unzugänglichen Netz hängen.
Und manchmal überwältigt es einen auch, und dann versuche
ich, das Zuviel ein wenig zu kürzen, um es so wieder wegzudrängen
von mir. Mag schon sein, dass dies dann als inwendig
erscheint. Absicht ist es jedenfalls, das Bild soweit zu bringen,
dass es eine Mitteilung wird, dass es sich im Wortsinn von mir
«weg-teilt», in der Hoffnung, so einen Adressaten zu finden.
Auch wenn man weiss, dass das einer Flaschenpost gleicht.

Hans-Joachim Müller: Inwendig wirkt ja auch Ihr Atelier. Gefüllt
mit Dingen, die Sie in Jahrzehnten gesammelt haben. Dinge,
die als bildnerischer Vorrat dienen, aber auch wie ein Schutz
nach aussen wirken.

Rolf Winnewisser: Es ist für mich ein Fundus, was hier steht und
lagert. Ab und zu wächst aus diesem Haufen etwas heraus - wie
eine Blume aus dem Humus. Der Raum und die Dinge in ihm
sind meine eigentliche Quelle. Was sich hier anhäuft, das ist
auch die Zeit, die diese Bild-Dinge repräsentieren; all die Erlebnisse,
die mit diesen Bildelementen zusammenhängen: Funde
von Reisen, Zeichen aus verschiedenen Welten, Schnittstellen
zwischen einer Vergangenheit und der Jetztzeit. Hier lagert
auch Zeit, das scheint mir ganz wichtig bei dieser unsystematischen
Art des Sammelns und Versammelns. Das Ganze ist
auch einem ständigen Wandel unterworfen, was an die Oberfläche
geschwemmt wird, was wieder in einer Schachtel verschwindet.
Einerseits Schutz, gleichzeitig auch eine Haut, aus
der ich mich häute.

Hans-Joachim Müller: Kann man beschreiben, was die Dinge
repräsentieren? Die Spanne scheint ja riesig gross zwischen
dieser alten Radioantenne, den zerlesenen Perry-Rhodan-Heften
und dem alten Spielzeug.

Rolf Winnewisser: Für mich sind das alles Teile unterschiedlichster
Bildmaschinen oder Bildapparate. Die Radioantenne
kommt aus Kairo. Ich mag die Analogie zum Bild als Sender
und Empfänger. Im Transportmuseum in Berlin gibt es eine
Radiostation von RIAS Berlin 1949, eine wunderbare Installation,
mit all den Geräten, Scheiben und Windungen und Schaltern.
So sehe ich meine Objekte und Bilder, die eine ähnliche
Funktionsweise haben wie Werkzeuge, innerhalb eines grösseren
Ganzen, das noch zu definieren ist. Es gibt viele Dinge
mit Rädern, oder auch Würfel beschäftigen mich immer wieder.
Und wenn sie in den Bildern auftauchen, dann tatsächlich in
der Form von Maschinenteilen, die in eine Bildapparatur eingreifen,
und so die Mechanik des Bildes befragen. Letztlich eine
Zeitmaschine des Sehens.

Hans-Joachim Müller: Es ist also eher die technische Gebrauchsspur
am Gegenstand, für die Sie sich interessieren, und weniger
die Geschichte, die die Gegenstände in sich bewahren?

Rolf Winnewisser: Was hier herumliegt, das benutze ich wie einen
Universalwerkzeugkasten ohne genaue oder mit immer neu zu
findender Bestimmung. Die Geschichten der Dinge lasse ich
sinken, bis sie versickert sind, um vielleicht später wieder neu
gelesen zu werden. Es sind - und das klingt vielleicht paradox
- Teile aus einem nicht realisierbaren Perpetuum mobile. Wie
das Perpetuum mobile keine Lösung hat, so ist es mit dem Bild.
Es gibt kein letztes Bild. Die Behauptung vom letzten Bild habe
ich stets abgelehnt. Die Bilder befördern und potenzieren ihre
Teile immer weiter, vom einen Bild zum anderen. Und die Dinge,
die aus meinem Bildmaschinenvorrat stammen, fungieren
wie Schnittstellen, Drehpunkte oder Drehachsen. Dort setzen
die Bilder etwas in Gang, sie machen Angebote, wie sie der Betrachter
als Werkzeuge benutzen könnte. Und wenn er diese
Werkzeuge nicht anders benutzen kann, als dass er die Dinge
erzählerisch deutet, dann ist das okay.

Hans-Joachim Müller: Es wäre für Sie kein Problem, wenn die
Assoziationen des Betrachters vor Ihren Bildern in eine ganz
andere Richtung gehen, in eine Richtung, die Sie nicht angepeilt
haben?

Rolf Winnewisser: Nein, das ist überhaupt kein Problem. Ich
möchte schon diese Freiheit lassen. Ich will die Angebote, die
meine Bilder machen, nicht aufdrängen und keinen bestimmten
Umgang mit ihnen erzwingen. Vorschriften gibt es keine. Da
lobe ich mir die imaginären Lösungen der Pataphysiker. Und
wenn es Missverständnisse gibt oder ich der Meinung bin, dass
da etwas missdeutet wird, dann ist das auch eine Art Geschenk.
In der Verkennung der Zeichen funktioniert Kommunikation.
Erst recht muss ich davon ausgehen, dass im Verstehen von
Kunst etwas passiert, was nicht strikte angeordnet wird. Wenn
die Bilder eindeutig wären, hätte ich es auf Didaktik abgesehen.
Und die ist mir geradeso fremd wie die Unmissverständlichkeit.
Nein, die eindeutigen Dinge waren es nie, die es mir angetan
haben.

Hans-Joachim Müller: In der jüngeren Malergeneration ist ein
starkes Interesse an surrealen Positionierungen zu beobachten.
Ist Ihre Art des konzeptuellen Malens nicht dazu ein entschiedener
Widerspruch?

Rolf Winnewisser: Das Surreale ist mir viel zu strategisch, das
ist nicht meine Absicht. Im Grunde sind die surrealen Bilder
ganz schnell durchschaut. Mich interessiert nicht so sehr die
surreale Begegnung der unvereinbaren Dinge, Gegenstände und
Motive. Mich interessiert vielmehr, wie man dem Verstehen
subversiv beikommt, wie man es hinterfragen kann, wie man
die Dinge nicht einfach aufeinandertreffen lassen, sondern in
Turbulenz bringen kann. In diesem Sinne entspricht für mich
der Begriff des Konzeptuellen mehr der Bildbefragung. Mir geht
es um Bewegung, nicht um Platzierung, um Bewegung sowohl
als Beschleunigung wie auch als Verzögerung. Deshalb sollen
sich meine Bilder auch nicht in bildnerischen Problemlösungen
auflösen, sondern wie Stolpersteine liegen bleiben. Ich mag die
Irritation. Das muss keine laute Angelegenheit sein. Die beste
Irritation zeigt sich im Staunen. Und wenn das gelingt, wenn
es erstaunlich bleibt, wie sich die Dinge auf den Bildern in Bewegung
halten, wenn das, was längst verstanden ist, plötzlich
nicht mehr verständlich ist, dann ist viel, dann ist eigentlich
fast alles erreicht. Das meint Irritation, dass man sich einlassen
kann auf das Unvorstellbare, auf das, was nicht gleich verständlich
ist, ein Aspekt, der mich konfrontiert mit dem Geheimnis
des Alltäglichen.

Hans-Joachim Müller: Ist das Ihre Erfahrung auch vor Ihren eigenen
Bildern, dass sie sich nicht bis ins Letzte aufschliessen?

Rolf Winnewisser: Ja, das hoffe ich schon, dass ich auch mich
selbst überraschen kann.

Hans-Joachim Müller: Wie kommen Sie vor in Ihren Bildern? Gibt
es so etwas wie Gestimmtheit, die Ihr Malen beeinflusst?

Rolf Winnewisser: Stimmungen, Tagesformen, natürlich spielen
sie eine Rolle. Das ist ein ganz elementarer Aspekt des Malens,
dass man in etwas hineingerät, was man nicht bis ins Letzte
steuern kann. Es gibt immer wieder die Erfahrung, dass man
die Dinge nicht so fest in der Hand hat, dass da etwas vorgeht,
worüber man auch selber erschrecken kann. Das gehört dazu.
Wie weit man selber im Bild ist, kann man schwerlich selber
beobachten. Natürlich habe ich mich schon als Silhouette in ein
Bild eingefügt, das meint aber wohl eine andere Ebene. Jedenfalls
funktioniert es nicht so, dass man das Bild anschauen und
sagen könnte, wie man in ihm vorkommt. Wie weit ist man
selbst im Bild? Wenn man nur wüsste, was das Persönliche ist.
Ich weiss es nicht. Ich denke, der Maler müsste soweit im Bild
sein, dass er sich nicht kennt oder wieder erkennt; er müsste
das Bild so weit treiben, dass er sich fremd wird.

Hans-Joachim Müller: Nehmen Sie sich Ihre Bilder immer wieder
vor, korrigieren Sie viel?

Rolf Winnewisser: Nein, das Korrigieren ist nicht so meine Sache.
Wenn, dann handelt es sich um ein Übermalen oder Wegmalen.
Früher habe ich «geschichtet», heute mag ich es, wenn der Arbeitsprozess
überschaubar bleibt, wenn es einen Anfang und
auch ein Ende gibt. Es ist auch so, dass ich an bestimmten Bildern
über einen längeren Zeitraum arbeite. Aber in der Tendenz
sollen die Bilder in einem Stück fertig werden.

Hans-Joachim Müller: Was immer wieder auffällt, ist die Nachbarschaft
von malerisch freien und gegenständlich bestimmten
Sektoren auf Ihren Bildern.

Rolf Winnewisser: Ich sehe das in Analogie zu den Prozessen bei
einem Gedankengang. Man denkt über etwas nach und wird
beim Nachdenken immer wieder unterbrochen oder unterbricht
sich selbst. So erlebe ich es auch beim Malen. Es gibt diese
Brüche, sie sind unvermeidbar. Wie soll man sie beschreiben?
Vielleicht wie einen Sprung aus dem Fluss der Linie, die man
gerade verfolgt. Malen ist eben kein so gleitender Ablauf, wie
man ihn sich vorstellen möchte. Malen ist wie Denken, also
wie unterwegs sein und nie genau die Richtung kennen. Immer
muss man damit rechnen, dass man unversehens aus der gewohnten
Schlaufe gerät - in eine andere hinein, dass man den
Anschluss verliert und ihn plötzlich wieder findet. Was also
wie Zäsuren, Sprünge und Abweichungen aussieht, ist in Wahrheit
nur die Abbildung unserer Möglichkeit zu denken. Es ist
nicht so, dass es mal die Entscheidung für ein gegenständliches
Motiv geben würde und dann wieder die Entscheidung für die
malerische Gestik. Das eine und das andere stellen sich ein, sie
wechseln sich ab wie die Themen einer unterschwelligen
Melodie.

Hans-Joachim Müller: Malerei bildet Bewusstseinsprozesse ab?

Rolf Winnewisser: Ein grosses Thema. Ich kann das immer nur
aus der Erfahrung und aus der Reflexion über die Erfahrung
beschreiben. Aspekte wie Selbstbeobachtung gehören dazu.
Jedenfalls versuche ich, bei der Bildarbeit den unterschiedlichsten
Graden von Bildhaftigkeit Geltung zu verschaffen. Es
gibt die analytischen Situationen, und es gibt andere, die vielleicht
der Traumarbeit ähnlich sind ?

Hans-Joachim Müller: ? und die gegenständlichen, realistisch-en
Szenerien haben dann mehr mit den Traumeinfällen zu tun?

Rolf Winnewisser: Ja, das mag schon sein, obschon es auch problematisch
ist, die inneren Prozesse gliedern und genau abgrenzen
zu wollen. Traumeinfälle gehören für mich in den
Bereich der Denk-Diagramme. Verdichtungen von einmal gemachten
Überlegungen, Beobachtungen, und dem Geschick,
dass das im Kopf zu einer Art Filmsequenz umkopiert wird.
Ich bin dann vor allem an der Frage interessiert, was das eigentlich
ist, dieses Bebildern der inneren Prozesse, und wie
man zu Bildformulierungen kommt, die einen nicht nur selber
betreffen, sondern auch einen Betrachter. Das ist immer eine
Gratwanderung und ausgesprochen heikel, sich als Maler so zu
positionieren. Zum einen sind meine Bilder von Selbstreflexion
bestimmt, andererseits erscheinen sie als Reflexion über das
Bildgeschehen. Für mich gehört das eine zum anderen, und ich
kann, was ich malerisch sagen möchte, am besten bei der Eigenbeobachtung
formulieren. Dort weiss ich einfach am meisten.
Das ist mein Spektrum, mein Forschungsfeld, die Schnittstelle
zwischen meinem Kopf und der Aussenwelt oder zwischen
den Kisten und Schachteln hier und den Reizen und Impulsen,
die von ausserhalb auf mich einströmen. Wie überschneiden
sich diese Bild-Felder, wie kommt was zusammen oder nicht
zusammen, was ist unbewusste Einschrift, was Kommentar,
wie fliessen sie ineinander, was trennt sie voneinander? Dort
situiere ich meine Arbeit mit dem Bild, mit diesem kernlosen
oder vielkernigen Ding namens «Bild».

Hans-Joachim Müller: Dabei haben Sie immer noch so etwas wie
ein Urvertrauen ins Bild. Man könnte ja auch die mediale Vernutzung
der Bilder dagegen halten. Sind Bilder nicht zugleich
schrecklich belanglos geworden? Was gibt das Zutrauen, Bilder
doch immer wieder neu mit Bedeutung aufladen zu können?

Rolf Winnewisser: Ja, wo liegt das Motiv für diese fast unverschämte
Weiterarbeit am Bild? Sie haben schon Recht, es ist
kein geringes Risiko, sich immer noch und immer wieder aufs
Bild einzulassen. Vielleicht ist es so, wie es Beckett gesagt hat:
Je ne suis bon qu?à ça. Dass man eben für sich selbst keine andere
Möglichkeit hat und die eigene Möglichkeit doch noch neue
Abenteuer bereithält. Malen ist für mich eine Form der Äusserung,
die nicht völlig aufgeht und irritiert. Langweilige Bilder
sind Bilder, die ich sofort verstehe, bei denen man unmittelbar
spürt, was der Maler will. Aber es gibt auch die anderen Bilder,
die ein ewiges Rätsel bleiben, die sich dem Verstehen nie ganz
erschliessen. Solche Bilder gibt es quer durch die Kunstgeschichte
- Velazquez etwa mit seinen «Meninas», Caravaggio, Manet,
Barnett Newman. Solche Bilder sind wie Batterien, die sich nie
ganz erschöpfen oder sich immer wieder von selbst aufladen.
Bilder, die nie gleich aussehen, die immer wieder etwas preisgeben,
was man zuvor noch nicht gesehen hat. Ein solches Bild
ist wie ein Perpetuum mobile, es hört nicht auf, kann nicht
aufhören. Und ich denke, es hat mit dieser Erfahrung zu tun,
die mich beim Bild bleiben lässt. Immer malt die Vorstellung
mit, Bilder malen zu wollen, bei denen dieses Unauflösliche
mitschwingt. Nur deshalb bleibt man bei diesem riskanten Unternehmen.
Das ist der eigentliche Grund. Eine Art Anspruch
auf Faszination. Dass es Bilder gibt, bei denen sich die Summe
der Teile nicht berechnen lässt, Bilderfahrungen, die alles überschreiten,
was man lokalisieren, einlösen, was man verstehen
kann. Diese Regungen und Erregungen, die von Bildern ausgehen,
die sind etwas Wunderbares. Solche Bilder sind wie Gedichte:
Alles ist da, die Worte, man kennt sie, versteht sie, man
weiss, wie sie zusammengestellt sind, aber was sie in Gang
setzt, was sie schwingen und klingen lässt, das ist ein Geheimnis
und wirkt weiter. Das Bild setzt etwas in Gang, das einen
stutzig macht.

Hans-Joachim Müller: Wie wichtig ist für Sie Öffentlichkeit?
Setzen die Bilder auch etwas in Gang, wenn es keine öffentliche
Wahrnehmung für sie gibt?

Rolf Winnewisser: Es ist wichtig, dass sich das Bild mitteilen
kann, dass es nicht nur nach innen kippt und dort verharrt.
Dass es einen Betrachter findet, dass es sich konfrontiert sieht,
womöglich einem Gegner gegenübersteht. Das finde ich schon
wichtig. Andererseits habe ich die Erfahrung gemacht, dass
man nicht immer so funktioniert, wie man vielleicht möchte.
Dass die Wahrnehmung fehlt. Solche Phasen kenne ich. Dann
habe ich halt versucht weiterzuarbeiten, trotz des eher stillen
Echos.

Hans-Joachim Müller: Haben Sie eine Erklärung für diese Phasen
des stillen Echos?

Rolf Winnewisser: Es ist nie so gewesen, dass ich in einem Nullraum
gearbeitet habe. Irgendeine Wahrnehmung hat es immer
gegeben, aber nicht immer gab es das grosse Publikum. Für
manche waren meine Bilder zu komplex, für andere zu diffus.
Es ist die ganze komplexe, diffuse Existenz, aus der ich die Bilder
hochzuholen versuche. Das macht sie vielleicht nicht so
brauchbar. Aber darüber bin ich nicht nur unglücklich.

Hans -Joachim Müller: Dabei gab es doch bis in die siebziger
Jahre durchaus Aufmerksamkeit für Ihr Werk. Was war der
Grund für diese doch spürbare Reserve des Kunstbetriebs, die
dann eingetreten ist?

Rolf Winnewisser: Nach meiner Ausstellung in der Kunsthalle
Basel 1979 entwickelte sich der Kunstbetrieb in eine ganz andere
Richtung. Es gab die Welle der Neuen Deutschen Malerei,
die propagiert worden ist; es gab in der Schweiz eine Malerpersönlichkeit
wie Martin Disler, der eben in der richtigen Zeit
die richtige oder richtigere Form gefunden hat. Jean-Christophe
Ammann, der die Basler Ausstellung organisiert hatte, hat das
ganz dezidiert formuliert: Disler stelle sich der Kunstwelt, ich
entzöge mich ihr. Das hat nicht ohne Folgen bleiben können.
Man kann heute schon sagen, dass ich aus diesem Kunstbetrieb
ein Stück weit ausgegrenzt worden bin. Was hätte ich tun sollen?
Öffentlichkeitsarbeit in eigener Sache? Die liegt mir überhaupt
nicht. Ein Manko, ich weiss, aber daran kann ich nichts
ändern.

Hans-Joachim Müller: Welche Rolle spielt Erfolg für Sie?

Rolf Winnewisser: Der Erfolg am Anfang war schön, durchaus
eine Motivation. Und ich schätze noch immer, wenn meine
Arbeit wahrgenommen wird.

Hans-Joachim Müller: Was lesen Sie gerne?

Rolf Winnewisser: Das ist ganz unterschiedlich, mal Schriften
zur Bildtheorie, dann wieder Literatur. Ich lese die unterschiedlichsten
Texte. Was die klassische Literatur betrifft, Autoren
wie Joseph Conrad, Herman Melville, Swift und vor allem Lawrence
Sterne oder Jean Paul. Letzthin habe ich noch einmal
Eichendorffs «Aus dem Leben eines Taugenichts» gelesen. Auch
dem Künstlerroman gilt mein Interesse. Immer wieder die «Cahiers
» von Paul Valéry. Unter den heutigen Autoren sind es
Schriftsteller wie Felix Philipp Ingold oder Bruno Steiger, neben
vielen anderen. Wichtig ist mir auch ein Oswald Wiener. Weitere
Namen: Louis-René des Forêts, Reinhard Priessnitz ... Oder
die theoretische Spur mit Texten wie: «Die Sprache der Mas
ken», «Die Entdeckung des Geistes» von Bruno Snell, «Grenzen
des Sichtbaren» von Karlheinz Lüdeking. Ein wunderbares
Gedichtbuch von Steffen Popp, «Wie Alpen», entdeckte ich
letzthin.

Hans-Joachim Müller: Kann es sein, dass gelesene Motive zu ihrem
Laborbestand hinzukommen und irgendwann im Bild
auftauchen?

Rolf Winnewisser: Ja, das kann durchaus sein. Und es gab auch
schon solche Fälle. Zum Beispiel die Föhre in Gottfried Kellers
«Grünem Heinrich». Ich habe sie abgezeichnet. Ob ich sie irgendwann
brauchen kann, weiss ich noch nicht. Aber diese
Spannung bei Keller hat mich sehr fasziniert, wie er als Künstler,
als Zeichner nicht weiterkommt. Man spürt unmittelbar,
wie er schreiben muss, weil es mit dem Zeichnen nicht so recht
klappt. Er verliert sich beim Zeichnen in den Details, in einem
Ast, einem Zweig, er versucht, wieder zurückzufinden, aber es
gelingt ihm nicht mehr, als wäre der Weg versperrt. Also beginnt
er, ein neues Kapitel zu schreiben, schreibt verzweifelt
Kapitel um Kapitel. Das ist ein sehr spannender, auch ein bewegender
Prozess. Eine weitere Spur, der ich nachgehe, hat mit
dem chinesischen Maler und Dichter Wang Wei zu tun.

Hans-Joachim Müller: Wächst denn der Bestand an Optionen
noch, oder ist die Sammelarbeit für Ihr Perpetuum mobile
abgeschlossen?

Rolf Winnewisser: Es wuchert und wuchert, und ich kenne die
Formel nicht. Ein Abschluss ist nicht in Sicht. Das ist halt der
Antrieb, verschlungenen Wegen nachzugehen, Umwegen, unvereinbaren
Wegen nachzuspüren. Und manchmal passiert es,
dass man plötzlich klarer sieht, dass aus den Brüchen Einsicht
wächst, dass sich irgendetwas nach vorne hin, oder in welche
Richtung auch immer, öffnet - wenn man zum Beispiel das
Glück hat, eine neue Ausstellung machen zu können. Es ist
schon wichtig, dass die Dinge immer mal wieder auf den Prüfstand
kommen und man die Bilder und Bildapparate aus dem
Abstand besehen und bedenken kann.

Hans-Joachim Müller: Sie bereiten eine Retrospektive im Kunsthaus
Aarau vor?

Rolf Winnewisser:Ob es wirklich eine Retrospektive geben wird,
ist noch nicht entschieden, aber eine Art Quersumme soll es
schon werden. In jedem Fall kann ich für Aarau manche Ideen
realisieren, die ich bislang nicht realisieren konnte. Ideal wäre
eine Zwischenform der Präsentation zwischen Rückblick und
Ausblick. Noch einmal zurück, wo ich war, und irgendwohin,
wo ich noch nicht bin.

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