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burckhardt:Wie fing es bei dir an?Wie fandest du zur Kunst und Architektur?

forster: Als Teenager habe ich mich dafür interessiert, was gerade geschah. Der Konflikt zwischen Gegenwart und Vergangenheit glich bei mir einem Blick durch ein umgekehrtes Fernglas. Ich stand ganz in der Gegenwart, so wie man sie in den späten 40er und 50er Jahren erfahren konnte.

burckhardt:Was waren damals deine Schlüsselerlebnisse?

forster: Ich erinnere mich an bestimmte Aspekte des Alltäglichen, etwa an Josef Müller Brockmanns Plakate für Tonhalle-Konzerte in Zürich anfangs der 50er Jahre. Sie zeichneten sich durch kühne Schnitte und eine Palette von Grautönen aus. Sie machten Reklame für die Volkskonzerte, auf deren Programm neue Musik stand. Die Konzerte kosteten beinahe nichts, doch für sie wurden Plakate entworfen, die grafische und musikalische Verfahren miteinander verbanden. Das faszinierte mich. Ich suchte eifrig nach Information und dabei fielen mir Publikationen in die Hände, die sich erst später als Instrumente einer Geheimstrategie des United States Information Service, des Vorgängers der CIA, entpuppten: die Ausgaben der Zeitschrift Perspektiven, die man bei den Antiquaren für einen Pappenstil kaufen konnte. In Perspektiven fanden sich u.a. ganze Partiturseiten Strawinskys abgedruckt, noch bevor sie im Musikalienhandel erschienen. In Perspektiven las ich als 17- oder 18-Jähriger den ersten Artikel von Meyer Schapiro über van Gogh.

burckhardt:Wann erschien Perspektiven erstmals?

forster: Die Zeitschrift gab es von 1952 bis 1956, und sie wurde im Fischer Verlag in Frankfurt herausgegeben. Perspektiven erschien mehrsprachig, denn es ging vor allem darum, dem Nachkriegseuropa ein Schauspiel der blühenden amerikanischen Avantgardekultur zu bieten. Dass dahinter vielleicht mehr Propaganda als Überzeugung stand, sollte sich erst später erweisen.

burckhardt:Weshalb schrieb denn Meyer Schapiro angesichts dieser politisch ideologischen Motivation von Perspektiven über van Gogh, einen Europäer, der damals bereits sechzig Jahre tot war?

forster: Es ging um das Verständnis der letzten Bilder van Goghs und nicht darum, sie als aktuelles Beispiel derMalerei vorzustellen; insofern bildete der Aufsatz auch eine Ausnahme. Meyer Schapiros Ansatz war ein psychoanalytisch-historischer, wie er sich erst in der damaligen Zeit stellte. So etwas zu lesen war für mich eine Eröffnung, weil Fragen an die historische Kunst gestellt wurden, die sich ebenso dringend an die zeitgenössische richteten.

burckhardt:Was hat dich speziell an der zeitgenössischen Musik fasziniert?

forster:Mein Interesse wurde mächtig von John Cage angestachelt, als er 1958 am Darmstädter Ferienkurs zu unterrichten begann. Er hatte das Prinzip des Zufalls in die Herstellung von Kunstwerken eingeführt. Das stand damals in schärfstem Gegensatz zu den traditionellen Vorstellungen, denen Kunstwerke als einmalig und unveränderlich galten. Im Rahmen der Dodekaphonik von Schönberg,Webern und später von Boulez herrschte ihr mathematischer Charakter vor, der auch nicht die kleinste Abweichung gestattete.Mit Cage brach nun eine geradezu rüde und barbarische Liebe für den Zufall herein. Zwischen den Lagern von Cage, Stockhausen, Pousseur und Boulez vermittelte Bruno Maderna, bei dem ich damals Kompositionsunterricht nahm.

burckhardt: Du warst also vor allem am Phänomen der Einführung des Zufalls, wie es bei Cage auftauchte, interessiert?

forster: Ja, und erst später begriff ich, dass das Prinzip des Zufalls nichts anderes ist als die Manifestation der Natur. Diese Einsicht fusste im 20. Jahrhundert auf Max Planck und wurde auch wesentlich durch Wolfgang Pauli mitbestimmt, der an der ETH Zürich Professor für theoretische Physik gewesen war. In ihrer atomaren und in ihrer astrophysischen Dimension, das heisst im Minimalsten und im Immensen, operiert die Natur nach statistischen Prinzipien. Ihre Manifestationen unterliegen der Probabilität. Es gäbe keine Bilder vermittels desMagnetic Resonance Imaging, hätte Pauli nicht die Idee des «Spins» der Elektronen gefasst. Aus diesem Verständnis der Natur entwickelte sich die Vorstellung, dass in ihr eine gigantische stochastische Apparatur amWerk ist. Das alte Schönheitsideal, das den Kristall zum Vorbild hatte, verlor etwas von seinem Glanz. Die Dodekaphonie in der Musik war die logische Folgerung aus diesem idealisti schen Prinzip, dem gemäss eine Komposition nur so und nicht anders sein durfte ? eine wirkliche Sackgasse der Geschichte, eine Engführung wie in einer Fuge.

burckhardt: So war für dich das Erlebnis des Ferienkurses 1958 in Darmstadt wie eine Art Befreiungsschlag, eine zündende Einsicht, die, denkst du heute daran, dich ganz in Fahrt zu bringen vermag.

forster: Man rückt die Dinge in der Erinnerung unweigerlich etwas zurecht, anders könnte das Gedächtnis gar nicht funktionieren. Das Gedächtnis ist überhaupt der springende Punkt bei der ganzen Sache. Deshalb habe ich mich auch mit Aby Warburg zu beschäftigen begonnen, nämlich mit der Frage, was uns in den Zeugnissen einer Kultur, zu denen nebst den Kunstwerken selbstredend auch Objekte und Rituale gehören, zum Entziffern herausfordert.
Dieses Interesse entzündete sich an einer Ausstellung von Juan Gris, die ich im Januar 1956 im Berner Kunstmuseum noch an ihrem letzten Tag erhaschen konnte ? ein Erlebnis, dem ich entscheidende Bedeutung zuschreibe. Innerhalb eines streng geometrischen Rahmens gilt bei Gris ebenfalls das zufällige Zusammentreffen. In seinen Collagen mit Spiegelscherben, Tapeten und Zeitungssausschnitten entsteht etwas Unmittelbares, was für mich in die gleiche Richtung wies wie die Musik von John Cage und die Erkenntnisse von Pauli.

burckhardt: Die frühen Erkenntnisse scheinen ihren Stellenwert bei all deinen Betrachtungen und Reflexionen bis heute nicht verloren zu haben. Hast du dich du zuerst mehr für die Musik interessiert?

forster: Vielleicht schon, denn man erwarb seine Kenntnis neuester Musik aus eigener Initiative; am Konservatorium und am Seminar Küsnacht war darüber nur Abschätziges und Dilettantisches zu hören.

burckhardt: Bei der Musik bist du unmittelbar beim Formulierungsprozess gegenwärtig.

forster: Bei Musik verfolgst du einen «Prozess». Der Darmstädter Kurs von Cage trug denn auch den Titel Composition as Process, denn in der Musik dominiert die Zeit.Was in deinen Ohren und Augen stattfindet, ist eine eigentümlich zwingende Manifestation der Dinge: So stellen sie sich ein, jenseits überschaubarer Absichten. Auch das Improvisieren steht dir frei, zudem die Möglichkeit, so zu agieren, als ob alles erst imMoment entstünde. Deshalb wird man nie müde, eine Live-Performance zu hören, auch die beste CD wiegt sie nicht auf. Der Jazz zieht daraus fast alles, was ihn auszeichnet.

burckhardt: Der Genuss eines klassischen Konzerts steht und fällt mit der Qualität der Interpretation der gespielten Stücke und der technischen Bravour derMusiker.Was sagst du zum Wandel der Interpretationsmöglichkeiten von Kunstwerken, den du als Wissenschaftler verfolgst und analysierst?

forster: In der Nachkriegszeit war das brennendste Thema, Kunstwerke aus ihrem hergebrachten Zusammenhang zu rücken. Im Palazzo Bianco in Genua löste man Bilder sogar aus ihren Rahmen. Der italienische Architekt Carlo Scarpa, über den ich im Jahr 2000 eine grosse Ausstellung organisierte, scheute sich nicht, das Fragment einer mittelalterlichen Skulptur auf einen Stahlstift und in ein kalkuliertes Streiflicht zu setzen, als handelte es sich um ein aus dem zerstörerischen Strom der Geschichte gerettetes Fundstück.
Eine weitere Nachkriegserfahrung war, dass man plötzlich in allem, was noch erhalten war, das Überlebende sah, das auf wunderbare Weise oder rein zufällig der Zerstörung entgangen war. Vielerorts wurden Fragmente wieder aus den Ergänzungen herausgelöst. Ein schlagendes Beispiel dafür sind die Ägineten in der Münchner Glyptothek, die Thorwaldsen im 19. Jahrhundert ergänzt hatte. Der Versuch, nur Authentisches zu präsentieren, veränderte das Überlieferte, denn es sollte ja auch so aussehen. Im modernen Verständnis reduzieren sich Skulptur und Bild ohnehin auf das, was man den Körpern ansieht. So findet man es befremdlich, wenn Krieger sich anlächeln, während sie sich doch gegenseitig totschlagen. Ein weiteres Beispiel dafür, dass auch der physiognomische Ausdruck keine verlässliche Aussage macht, sondern eine Art Telegramm entsendet, das durch stochastische Veränderung plötzlich eine andere Bedeutung erhält. Das Faszinierende an AbyWarburgs Untersuchungen ist, dass er in diese psychischen Abgründe tauchte. Er spürte den traumatischen Leidenserfahrungen der Menschen nach und fragte sich, was sie für die Kultur abwerfen. Er mutmasste, dass dabei ein «Engramm», wie er es nannte, entstünde und im sozialen Gedächtnis überliefert würde. Zwar fehlten ihm dazu sowohl neuro-physiologische als auch psychosoziale Daten, aber es war dennoch ein produktiver Ansatz:Warburg erkannte, dass der menschliche Ausdruck labil ist und leicht in seinen Gegensinn umkippt.

burckhardt: Der amerikanische Regisseur Robert Wilson thematisiert auf der Bühne und in Videos diese Umwandlung der Emotionen in seinen wunderbaren Zeitlupe-Gesten. Und wenn wir gerade von Fragmenten sprechen: Es lässt sich leicht beweisen, wie Ausschnitte von Fotografien in den Medien Fakten zu verzerren vermögen und so zu Falschinterpretationen verleiten.

forster:Wolfgang Pauli hat in seinem Briefwechsel mit C. G. Jung geschrieben, dass das Grunddilemma der Physik darin bestünde, dass alles, was du beobachtest, durch die Beobachtung verändert wird, und dass das Beobachtete vom Beobachter letztlich nicht zu trennen ist. Eigentlich ist das etwas Hilfreiches, denn so wie du annehmen musst, dass das Bild auf dich eineWirkung ausübt, hat deine Betrachtung wiederum eineWirkung auf das Verständnis des Bildes.

burckhardt: Deine intensiven Auseinandersetzungen mit Architekten und Urbanisten schlagen sich nicht nur in deinen zahlreichen Publikationen und Vorlesungen nieder, du nimmst auch oft wesentlichen Einfluss auf die Entstehungsprozesse ihrer Projekte. Kannst du einige dieser Zusammenarbeiten beschreiben?

forster:Mit Frank Gehry arbeitete ich zum Beispiel amMuseumskonzept für seinenWettbewerbsbeitrag in Berlin. Die Auslobung forderte ein übergreifendes Konzept für die Museumsinsel ein. Man wollte nicht nur das Neue Museum ersetzen, sondern die fünf selbständigen Gebäude auf der Insel in eine sinnfällige Beziehung setzen. Allerdings wurde das Projekt suspendiert, und von unserem Engagement blieb einzig der kleine Band unserer Konversationen übrig.

burckhardt: Zuvor hattest du mit Daniel Libeskind an einem anderen Museumsprojekt gearbeitet, das auch nicht zu eurer Zufriedenheit zu Ende geführt werden konnte.Wie ging das vor sich?

forster: Mit Daniel Libeskind arbeitete ich am Projekt Jüdisches Museum zusammen, das damals noch Jüdische Abteilung des Berlinmuseums hiess. Für Daniel, der nur Englisch spricht, sollte ich ein Konzept in deutscher Sprache formulieren. Beispielsweise bezeichnete ich bestimmte Volumen als «entäusserte Leere». «Leere» bedeutet, dass nichts da ist, aber eine «entäusserte Leere» entsteht, wenn abgeschottete Volumen aus dem Baukörper herausgehoben werden. Im Gegensatz dazu durchläufst du heute die Geschichte Berlins, als wäre nichts geschehen. Dann gehst du ins Jüdische Museum, das ein makabrer Kramladen geworden ist. Für mich etwas erschütternd Ahnungsloses. Ich glaube, es ist ein fataler Kurzschluss, Trennungen, die die Geschichte geschaffen hat, tel quel zu akzeptieren. Damit wiederholt man nur, was vorgefallen ist, statt in Erinnerung zu rufen, was gewesen war, bevor die Hälfte der Leute aus der Kultur zwangsemigriert oder deportiert wurde.

burckhardt: In Berlin warst du sechs Jahre lang auch als Berater für die Stadtentwicklung tätig. Da ging es um die grossen urbanistischen Eingriffe.Wie lagen die Dinge in dieser komplexen Aufgabe?

forster: Wir waren fünf Leute, die der Senator für Stadterneuerung nach 1990 berief. Die Kernfragen waren: Wie soll man die beiden Stadthälften wieder zusammenfügen? Was wird neu wohin kommen? Was fällt weg? Es war Aufgabe der Beratergruppe um Senator Volker Hassemer, sich, wie er gerne sagte, für ihn den Kopf zu zerbrechen. Gelegentlich brachen dabei auch andere Knochen. Dennoch gab es Erfolge; jedenfalls gewann Berlin in wichtigen Bereichen neue Qualitäten. Aus dem Kemperplatz, wo sich einstMies van der Rohes Nationalgalerie und Hans Scharouns Philharmonie wie zwei aussterbende Spezies der Architekturgeschichte gegenüber standen, ist inzwischen ein lebendiger Stadtteil geworden.

burckhardt:Wie wurden diese grossen und heiklen Projekte von eurer Seite her der Öffentlichkeit vermittelt, damit sich die Bevölkerung mit ihnen identifizieren konnte? Das war gewiss eine äusserst heikle Angelegenheit.

forster: Es wurde viel darüber debattiert und geschrieben. Ich kenne kein anderes Beispiel einer öffentlichen Debatte dieses Ausmasses, unterstützt durch die Medien und ein eigens publiziertes Stadtjournal.

burckhardt: Als du diese Aufgabe übernahmst, warst du der Gründungsdirektor des Getty Center for the History of Art and the Humanities in Santa Monica, das heute Getty Research Institute heisst. Wie konntest du dein anspruchsvolles Mandat in Berlin mit der Riesenaufgabe weitab in Kalifornien unter einen Hut bringen?

forster: Noch bevor das Mandat in Berlin anfing, hatte ich 1990 Christa Wolf ins Getty Center eingeladen. Sie trat dort in eine Reihe von SchriftstellerInnen, die aus Abstand von ihrem vertrauten Arbeitsort neue Einsicht in ihre eigene Kultur gewonnen hatten. Ich denke zum Beispiel an Marina Warner und William Gass. Bei Christa Wolf kam ein seltener Prozess in Gang: Du begleitest jemanden, der seine Erfahrungen revidiert. Sie kam mit fliegenden Fahnen nach Santa Monica, aber auch gefolgt von einem Rattenschwanz von Journalisten, die versuchten, sie in die Enge zu treiben. Gerhard Wolf, Christas Mann, hatte lange Jahre graphische Blätter von Künstlern herausgegeben, eine Art Samisdad der DDR, mit Gerhard Altenbourg und anderen. Es war ihm gelungen, in der DDR als Kunst-Herausgeber und Verleger zu agieren. Davon blieb nur die «Vorzeit» erhalten. Wenn die Verhältnisse sich ändern, besteht dafür kein Bedarf mehr. Persönlichkeiten wie das Ehepaar Wolf hatten mich auch in Bezug auf meine Arbeit in Berlin besonders interessiert. Zu Anfang der 90er Jahre versuchten wir vom Getty Center aus, Arbeiten von Künstlern zu erwerben, die zum Teil, wie Ilya Kabakov, Russland verlassen hatten. Kabakov ist eine Figur, die den kulturellenWert von Ausbruchsphantasien erkennen lassen. Ich denke an The ManWho Flew Into Space, eine Installation im Centre Pompidou: Aus einer schäbigen Bude katapultiert sich eine Gegenfigur zum Raumfahrer Gagarin aus seiner erbärmlichen Gegenwart ins All und fliegt phantastischen Erwartungen entgegen, denn er glaubt, es müssten im All noch ganz andere Möglichkeiten vorhanden sein.Womit wir wieder beim alten Thema gelandet wären, der stochastischen Natur der Wirklichkeit.

burckhardt: Reden wir noch kurz von deiner Zeit zwischen 1984 und 1992 im Getty Center.Warst du es, der das Konzept für diese Institution an den Getty Trust herangetragen hat?

forster: Eigentlich nicht, denn der Präsident des Getty Trust kam auf mich zu. Ich war damals Professor in Stanford, und er fragte mich, was man mit viel Geld denn Sinnvolles tun könnte. Ich schlug ihm das Konzept eines Forschungsinstituts vor, das von vornherein die Fakultäten überspringen sollte. Es ging darum, jede Intelligenz, die für menschliche Artefakte und Kunstwerke von Belang ist, einzubeziehen. Ich entwickelte 1983/84 das Konzept eines Postgraduierten- Forschungszentrums, jedoch nicht nach dem Modell der ehemaligen Kaiser Wilhelm Gesellschaft, die später die Max Planck Gesellschaft wurde. Dieses Model sah für die einzelnen Forschungssparten Direktoren und entsprechende Institute vor. Wir wollten aber keine Gebetsmühlenbetreiber installieren, sondern brennende Themen anpacken und dazu Leute aus der ganzenWelt einladen. Das war die Idee: jedes Jahr ein Kaleidoskop von Figuren, die für diese Zeit völlig frei gestellt sind. Dann haben wir ? übrigens gegen enorme Hindernisse ? Dissertationsstipendien eingeführt. Es ging vor allem darum, die Grenzen zu überspielen. Heute gehört das weitgehend zum universitären Alltag, aber vor einem Vierteljahrhundert war man noch darauf bedacht, die Integrität der einzelnen Fächer und die Hierarchien desWissens zu sichern.

burckhardt: Hat dich deine Beschäftigung mit Aby Warburg beim Aufbau dieser Institution inspiriert?

forster:Warburg legte zweifellos eine Tangente an das Problem. Der springende Punkt jedoch war die disziplinäre Organisation der Universitäten zu überwinden, unter der Bedingung der Internationalität. Zum Erfolg waren selbstverständlich erstklassige Strukturen erforderlich. Das Getty Research Center verfügt inzwischen über die beste Bibliothek zu Kunst- und Architekturgeschichte in all ihren Schattierungen.Weil wir uns mit grundsätzlichen Fragen beschäftigen wollten, legten wir auch die Grundlagen für ein heute immenses Archiv, das dokumentiert, wie bestimmte Ideen entstehen, wie sie vermittelt und verstanden werden, welche Reaktionen sie hervorrufen, wie sich didaktische und kritische Konzepte herausbilden. Nicht nur die Voraussetzungen zur Forschung sollten optimal sein, wir wollten auch selber produktiv werden. Du weisst von Parkett, dass ein heikler Austausch besteht zwischen Orientierung und Reaktion, zwischen «input and output».Wir haben Publikationsserien initiiert, z.B. Texts & Documents. Hier publizierte ich meine erste englische Ausgabe von Aby Warburgs Schriften, und soeben ist der zwanzigste Band erschienen, eine neue Übersetzung von Le Corbusiers Vers une architecture.

burckhardt: Deine Jahre im Getty Center müssen enorm anregend gewesen sein.Warum entschiedst du dich dennoch, nach neun Jahren wieder in die Lehrtätigkeit zurückzukehren und dich 1993 als Professor an der ETH Zürich anstellen zu lassen?

forster: Im Getty Research Institute habe ich mich kannibalisiert. Trotz meines zweiten Taufnamens wollte ich mich nicht zum «Ver-Walter» meiner eigenen Ideen machen. Auch reizte es mich, in der Schweiz einmal beruflich tätig zu werden.

burckhardt: Du warst doch in den 70er Jahren zwei Jahre lange der Direktor des Schweizerischen Instituts in Rom gewesen.

forster: Gewiss, aber da war ich nicht in, sondern für die Schweiz tätig. Bei Getty konnte ich ein Forschungsinstitut aufbauen, an der ETH fühlte ich mich sozusagen wieder als Anfänger in einer hervorragenden Institution.

burckhardt: Anfänger? Warum?

forster: Ich hatte keine akademische Erfahrung in der Schweiz.

burckhardt:Was ist denn da so anders für einen Professor, der in Yale, Stanford, UC Berkeley, Harvard und am MIT, einer Art amerikanischem Äquivalent zur ETH, gelehrt hat?

forster: Das Leben an einer amerikanischen Universität findet in einem anderen Rahmen statt. Ich kam 25-jährig nach Yale als blutiger Anfänger und wurde 22 Jahre später als Professor ans MIT, quasi in die Stratosphäre, berufen. Meine Erfahrungen waren in jeder Hinsicht amerikanische.

burckhardt: Ok. Aber von den Inhalten der Vorlesungen her und der Art der Präsentation ist es doch in der Schweiz nicht so anders, oder?

forster: Unterschiede gibt es doch, und zwar in gegensätzlichen Richtungen: Ich glaube, dass ich meine amerikanischen Vorlesungen feiner durchgearbeitet habe und dennoch einen freieren Umgang mit den Studierenden pflegte. Andererseits brachten mir die fortgeschrittenen Studierenden und meine Assistenten an der ETH grosse Sympathie entgegen.

burckhardt: Sind also die Studierenden anders?

forster: Ja. Sie haben andere Erwartungen und Attitüden.

burckhardt:Wie würdest du die beschreiben?

forster: Eine wirklich heikle Frage, nicht zuletzt, weil man furios verallgemeinert. Das Verhältnis zu den Studierenden und Kollegen in der Graduate School, was etwa dem Niveau der ETH entspricht, ist in Amerika freier im Umgang, aber etwas professioneller in der Substanz. Das hält beide Seiten auf dem Quivive, führt über zwei Sätze small talk direkt zum Thema. Ich würde sagen, weniger Höflichkeitshürden und Affentänze, hohe Leistungserwartungen, offene Kontroversen und Tempo. In Europa herrscht ein etwas gemessenerer Takt und grössere persönliche Empfindlichkeit. Was in Europa das Unterrichten zunehmend interessant macht ? zwei Jahre an der Bauhaus Universität in Weimar haben mir das verdeutlicht ? ist das Erasmusprogramm. Als Gropiusprofessor, der dort das wiederhergestellte Arbeitszimmer vonWalter Gropius geniesst, fiel mir besonders die kulturelle Vielfalt und intellektuelle Vitalität der Studierenden aus europäischen «Randgebieten» auf.

burckhardt: Es sind doch auch die amerikanischen Universitäten voller internationaler Studierender?

forster: Ja, auf der Ebene der Graduate School gibt es Studierende aus allen Weltteilen. Du sprichst mit Chinesen und siehst, dass sie aus einer Kultur kommen, in der das, was du sagst, etwas anderes bedeutet, als wenn du mit Kollegen aus New Jersey redest.

burckhardt:Wie handhabst du das, wenn du jetzt wieder in Yale diese heterogene Gesellschaft vor dir hast? Unterrichtest du dort anders als in Europa?

forster: Kaum, es sei denn, du bringst die Themen in erster Linie als Hypothesen zur Sprache. Du spürst, wie begrenzt unser Verständnis anderer Menschen und Kulturen ist; hier stösst das Geschwätz von Globalisierung bald an harte Grenzen, selbst in einer kleinen Gruppe. Die Divergenz ihrer Interessen und methodischen Fähigkeiten führt dazu, dass ein und dasselbe Thema sich in immer wieder neue Spiegelungen auffächert.

burckhardt: Das hält dich auf Trab.

forster: Darum mache ich das auch. In der Regel geben Professoren im fortgeschrittenen Alter diese Aufgaben ab, aber bei mir stecken alle Vorlesungen ausgeschrieben im Computer. Ich betrachte sie lediglich als Partitur für eine «Aufführung». Ich habe sogar Anflüge von Lampenfieber, und manchmal geht?s auch daneben. All das ist nur möglich, weil Amerika keine Zwangsemeritierung mehr kennt und den «Altvordern» alles abknöpft, was man noch aus ihnen herauskriegen kann. Wir sind dort nicht «Altlast», sondern «free radicals», if you know what I mean.

burckhardt: Du modellierst also stark an diesen Texten, je nach Situation und Reaktion der Zuhörer.

forster: Ja.Wenn du ein Gebäude behandelst, gilt es, knapp die historischen Gegebenheiten zu skizzieren. Nicht als Abriss jedoch, sondern als «Enthüllung» der Gegebenheiten. Spricht man von den Fäden, die Chicago im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts mit Europa, mit Berlin und Wien, verbanden, fällt die lokale Kultur ins Gewicht. In Chicago wurden wichtige Texte der Architekten Gottfried Semper und Otto Wagner zuerst übersetzt, sonntags erklang die neuste Musik von Richard Wagner. Der Architekt Louis Sullivan hörte und beschrieb sie in seinen Erinnerungen.Wagners Musik wurde ihm zum Ideal des «lebendigen Kunstwerks», wie er es in seinen Bauten verfolgte. Erzählst du diese Dinge, kannst du nicht wissen, ob sie ankommen. Am Ende zweifelst du daran und glaubst, du könntest genauso von Teehändlern aus Ceylon reden. Du merkst plötzlich, dass bei uns, wenn du Richard Wagner erwähnst, tausend Vorstellungen aus diesem Namen herausspringen. Du kannst nachvollziehen, dass Nietzsche, der in Turin verrückt wurde, die Mole Antonelliana als Zeugnis Zarathustras interpretierte und eine Postkarte an Jacob Burckhardt schrieb, er müsse sich das unbedingt ansehen. Dass sich Nietzsche mit diesem Gebäude beschäftigt hat, ist für uns kein Anhängsel, sondern eine Dimension dieses irrsinnigen Projektes, das damals das höchste der Welt werden sollte. Studierende aus einer anderen Kultur haben kaum Zeit, sich in diese Dimensionen einzuarbeiten.

burckhardt: Mit Google ist der Zugang zu Informationen enorm erleichtert worden.

forster: Selbstverständlich. Aber geh mal auf OttoWagner und schau, was dabei Ungefiltertes rauskommt.

burckhardt: Trotzdem.

forster: Trotzdem bleibt es meist etwas bizarr Zusammengestücktes. Mich beschäftigt eher, wie aus den unterschiedlichsten Zusammenhängen, Überschneidungen und verpassten Beziehungen ein Netz hypothetischer Verbindungen entstehen kann. Für manchen Architekten des späteren 19. Jahrhunderts ging es beim Projektieren um Dinge, die man nicht wirklich sehen kann. So entwickelte Sullivan die Vorstellung, dass das Bauwerk durch Analogie die Qualität eines lebendigen Organismus annehmen solle. Nachdem er mit Dankmar Adler in Chicago das Auditorium-Building abgeschlossen hatte, das erste Hypergebäude mit Wohnungen, Büros, einem Hotel, dem grössten Theater im Midwest, Läden und Passagen, reiste er erschöpft in den Süden nach Louisiana. Dort, im Delta, baute er sich ein Cottage, das letztes Jahr vom Wirbelsturm Katrina hinweggefegt wurde. Ihn hätte das nicht überrascht, denn er beschrieb den Bauplatz als einen Ort, wo die Natur alles, was von Menschenhand gemacht ist, wieder einfordert.

burckhardt: Gehe ich recht in der Annahme, dass du eigentlich lieber Architekten als Wissenschaftler ausbildest, in der Hoffnung, dass wenn du sie in die Komplexität und den Reichtum der Disziplinen einführst und dabei ihre Neugier weckst, sich das konkret in neuen Architekturen niederschlagen kann?

forster: So ist es zumindest gelaufen. Seit je interessieren mich Figuren wie Giulio Romano, Karl Friedrich Schinkel, Le Corbusier, Frank Gehry, die Kunst und Architektur in ein enges gegenseitiges Verhältnis bringen. Theater und Ausstellungen eignen sich besonders dazu. In Chicago machte ich 1994 eine Ausstellung über Schinkels Theaterbauten und Bühnenentwürfe, und Carlo Scarpas Sinn für nervige Bilder und Gespür für Kunstwerke kamen auf der Ausstellung 2000 in Vicenza und Verona zum Zuge.

burckhardt: Du wähltest für die von dir kuratierte Architekturbiennale 2004 in Venedig den Titel Metamorph.Was erachtest du als ein wesentliches Merkmal in der jungen Architektur?

forster: Junge Architekten versuchen heute Dinge zu begreifen, die sich unserem Verständnis entziehen. Schon seit geraumer Zeit bezieht sich Architektur nicht mehr auf formale Grundelemente. Statt ein Inventar unwandelbarer Figuren zu handhaben, wollen Architekten ihren Objekten die Kapazität einimpfen, sich zu verändern. Man hängt nicht mehr an feststehenden Typologien, sondern entwickelt hybride Gebäude, deren Teile überraschende Verbindungen eingehen und deren atmosphärische Eigenschaften sich unablässig verändern. Dazu werden künstlerische Ideen aus Asien fruchtbar.

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