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Inge Beckel: In welchem Verhältnis steht das Bauen zur Gesellschaft - und zur Gemeinschaft?

Gion A. Caminada: Der Begriff der Gesellschaft ist allgemeiner: Eine Gemeinschaft ist eine überschaubare Form der Gesellschaft; sie funktioniert anders. Bei einer Gemeinschaft rückt der Mensch stärker ins Zentrum unseres Wirkens. Ich meine, eine Kultur ist in einer Gemeinschaft entstanden und hat sich dann sinngemäss in der Gesellschaft ausgebreitet, hat sich dort etabliert. Dieser Prozess interessiert mich, weil kulturelle Momente für meine Arbeit zentral sind.
Eine Gemeinschaft in produktivem Sinne existiert heute, ausserhalb der Familie, nur noch vereinzelt. Sie kann auch innerhalb eines Bauprozesses entstehen, zwischen Architekt und Bauherrschaft - dann, wenn sich die Beteiligten von Sach- und Identitätszwängen lösen können. Das ist wichtig in einem Findungsprozess. Für mich gilt das Dorf als «Exempel» einer Gemeinschaft. Besonders früher war man aufeinander angewiesen, Solidarität war kein Fremdwort. Hierarchien verschie­denster Art waren von hoher Bedeutung, schliesslich sind Hierarchien notwendig, schon in der Erziehung braucht es sie. Natürlich führen sie auch zu Konflikten, doch muss man diese ertragen können. Ohne Hierarchien stirbt das Dorf als «Gefäss» ­einer ­Gemeinschaft.
Beim Bauen zeigen sich Hierarchien in der Formensprache, in der Materialwahl oder der Grösse des Gebäudes. Als Ausdruck der Ordnung eines Dorfes braucht es sowohl bescheidene, zurückhaltende, wie dominante Formen, genauso wie es Entscheidungsträger in sozialen oder politischen Fragen braucht. Die Werkzeuge des Bauens in der Gemeinschaft unterscheiden sich von denjenigen des Bauens für die Gesellschaft. Aber bei beiden gilt es, bestehende Qualitäten zu erkennen und das eigene Vorgehen klar zu bestimmen, innerhalb der Möglichkeiten, die teilweise im Widerstreit zueinander stehen.

Kann Architektur etwas dazu beitragen, dass Gemeinschaften entstehen? ­Können Bauten das Gemeinschaftsgefühl einer Gemeinde stärken?

Bei der Totenstube, die wir 2002 in Vrin gebaut haben, wurde ein gesellschaftliches Ritual aufgenommen, das Ritual des Abschiednehmens von den Verstorbenen. Es ist im konkreten Fall das Ritual einer bestimmten Dorfgemeinschaft. Denn es ist spezifisch auf Vrin zugeschnitten und hat keine Allgemeingültigkeit; es ist nicht auf den Kanton Graubünden oder auf die Schweiz ausgerichtet.
Die Art dieses Rituals unterscheidet die Vriner Gemeinschaft von der übrigen Gesellschaft. Hier wird eine Kultur von hoher Authentizität erhalten, gefördert oder sogar weiterentwickelt. Aus der Beziehung zur Gesellschaft heraus schaffen wir ­Differenz. Der Bautypus, den wir entworfen haben, ist aus der Gemeinschaft und für die Gemeinschaft in Vrin entstanden. Vorher wurden die Verstorbenen zu Hause aufgebahrt, bis sie in einem Trauerzug zum Friedhof überführt wurden. Die öf­fentliche Trauerfeier hat mit der Totenstube an Bedeutung gewonnen, womit das Gemeinschaftsgefühl des Dorfes gestärkt wurde.

Die Totenstube trägt also zur Stärkung der Dorfgemeinschaft in Vrin bei. Ist damit ein kultureller Mehrwert geschaffen worden?

Wenn aus einem Bau oder aus seiner Nutzung ein Vorteil oder Gewinn für eine Mehrheit der Gemeinde erwachsen kann und dabei verschiedene Interessen abgedeckt werden, meine ich, dass ein Mehrwert für den Ort entsteht. Auch dann, wenn Ökonomien Gemeinschaft generieren können, entsteht kultureller Mehrwert. Bei der heutzutage üblichen Ökonomie des reinen Selbstzwecks ist dies nicht der Fall. Die andere Art einer Ökonomie - eine, die Gemeinschaft generiert - entsteht dann, wenn im Dorfladen zum Beispiel Produkte zu kaufen sind, die vor Ort hergestellt werden.
Die Maxime eines derartigen Verhaltens ist, dass es möglichst vielen Menschen gut geht - durch persönliches Handeln, auch durch mein eigenes. Ein solches Verhalten spiegelt unsere Idee des Orte-Schaffens: Produkte werden vor Ort hergestellt, durch ihre Produktion entsteht Wissen, wodurch in einem weiteren Schritt Bedeutung generiert wird. Auch der ökonomische Mehrwert bleibt im Ort. Diese Art von Prozessen erhöht zudem das Selbstwertgefühl in einem Lebensraum, also der dort lebenden Menschen.
Dieses Selbstwertgefühl lässt sich eher in einer Gemeinschaft entwickeln. Eine Gemeinschaft ist überschaubar. Demgegenüber ist die Gesellschaft grösser und ­damit auch träger. In einer Gemeinschaft findet Auseinandersetzung direkter statt, man ist sich näher, kennt sich persönlich und diskutiert anders. Ein Mensch mit ­einem hohen Selbstwertgefühl geht diesen Dingen nicht aus dem Weg. Heute hat man das Gefühl, man sei unfähig zu streiten; man versucht, die Konfrontation zu vermeiden. Scheut man jedoch die Auseinandersetzung nicht, werden in Prozessen des Diskutierens kulturelle Mehrwerte erzeugt, denn die vereinbarte Lösung vereint die - gedankliche - Arbeit vieler.

Man könnte in einem übergeordneten Sinne folglich sagen: Bauten sind ­materialisierte Manifeste gesellschaftspolitischer Verhältnisse?

Ja, natürlich. Sagten wir hierzu nein, dann würden wir ja nicht zu unserem eigenen Verhalten stehen. Oder die Absichten und Manifeste, die wir verkünden, wären nicht Teil unseres Verhaltens. Wenn ich allerdings all das Bedeutungslose be­trachte, das heute herumsteht und das wohl mehrheitlich aus wirtschaftlicher Selbstgier entstanden ist, zweifle ich schon an der Qualität dessen, was unsere Gesellschaft produziert, oder daran, wie sie sich verhält. Ich glaube, die Gesellschaft selbst zweifelt an ihrem Verhalten. Eine gewisse Unsicherheit ist spürbar.
Ich bin überzeugt, dass viele Menschen nicht wirklich das tun, was sie eigentlich möchten, vielmehr sind sie getrieben von Existenzängsten oder von Partikular­interessen. Eine grosse Herausforderung besteht meiner Meinung nach darin, dass wir Menschen in unserem eigenen Handeln freier werden. Wir müssen uns von Sach- und Identitätszwängen lösen. Freier sein bedeutet nicht egoistisches, «selbst­refenzielles» Handeln, sondern vor allem das Wahrnehmen dessen, was für uns als Einzelne verfügbar ist und durch unser Handeln verbessert werden kann.
Gerade durch unser heutiges Verhalten gegenüber der Vergangenheit - indem etwa kulturelle Vielfalt vernichtet wird - wie gegenüber der ­Zukunft - indem wir keine klaren Ziele definieren oder beispielsweise verschwenderisch mit Bauland umgehen - zeigen wir unsere Unfähigkeit, im Jetzt zu leben. Ich glaube, wir sind «Getriebene» und leben zu wenig in unserer Zeit. Wir flüchten mitunter in Scheinwelten oder virtuelle Welten und merken nicht, was in unserer nahen ­Umgebung passiert, welche Bedürfnisse wir und die Menschen um uns ­eigentlich haben.

Der Architektur- und Kunsthistoriker Adolf Max Vogt schrieb im «Werk» schon in den Fünfzigerjahren «vom Problem, Zeitgenosse zu sein», und meinte, dass jene Epochen am stärksten in ihrer jeweiligen Jetztzeit verankert gewesen seien, die sich ihrer Kontinuität in der Zeit bewusst waren und nicht glaubten, über ihr zu stehen. Du sprichst dich also wie Vogt dafür aus, dass wir Teil einer historischen Kontinuität und damit dem Wandel unterworfen sind. Wie verhält es sich nun aber mit dem Bestreben, Bautypen zu suchen oder zu entwickeln, die bleibende Gültigkeit haben?

Eine der grossen Herausforderungen besteht für mich darin, Häuser zu bauen, die bleibende Gültigkeit haben, fast «absolute». Das bedeutet konkret, Themen aufzugreifen, die in der abendländischen Baukultur als Konstanten zu betrachten sind. Es gibt Themen zu Typus und Wandel, die die Menschen seit Jahrtausenden begeistern, etwa Bauten mit grossartigen Konstruktionen oder solche, bei denen das Material in seiner spezifischen Anwendung eine hohe Präsenz aufweist. Es gibt Grundrissformen, die sich für unterschiedliche Lebensformen eignen und damit hohe Kontinuität aufweisen; Räume, die als eine Mischung aus Introvertiertheit und Extrovertiertheit erlebbar sind. Bauten mit unverhofften Innenwelten, die von aus­sen nicht erfasst werden können, sind spannend und ein wichtiges Thema der Architektur; Räume für das Gewöhnliche, das Alltägliche, die gleichzeitig auf etwas ­Abwesendes hindeuten. Räume von solcher Ambivalenz zu schaffen, ist die hohe Kunst der Architektur. Sie haben etwas Umfassendes, das vergleichbar ist mit einer Sicht auf die Welt, wo Glauben und Wissenschaft je ihre Bedeutung und einen ­eigenständigen Wert haben.
Häuser, die über ihre Entstehungszeit hinaus Gültigkeit haben, sind solche, die die funktional rudimentären Bedürfnisse der Menschen erfüllen, und, umgekehrt betrachtet, gleichzeitig auf sie bestimmend wirken. Damit spreche ich die ­Autonomie der Architektur an, die Kraft der Geometrie oder der Symmetrie. Ich spreche vom richtigen Mass, auf der einen Seite Grenzen zu setzen, während auf der anderen Offenheit zugelassen wird.

Kannst du dieses Mass, Grenzen zu setzen und Offenheit zuzulassen, etwas ­genauer umschreiben?

Aldo Rossi hat gesagt, gute Architektur müsse Ereignisse zulassen. Wenn alles ­bestimmt und folglich festgelegt ist, ereignet sich wenig - ebenso, wenn alles offen bleibt. Architektur ist ein Gefäss für Ereignisse, gute Architektur kann Ereignisse fördern.
Bei einem Bauauftrag überlege ich also, was dies für die gestellte Aufgabe heis­sen kann? Welche strukturellen Grenzen will ich setzen? Die Antwort findet sich auf der kulturellen Basis - ausserhalb der Objektentwicklung. Beim Entwurf der Totenstube ging es um Fragen von Verhaltensformen während des Trauerns. Was kann man den Menschen in dieser Zeit zumuten, und was ertragen sie nicht? Wo sind die Grenzen, welches die Regeln? Um dies zu wissen, muss ich danach forschen - im Bereich des Kulturellen.

Wie kannst du in einem Bauwerk Grenzen und Offenheit oder auch Typus und Wandel konkret zusammenbringen?

Ich denke, im Bereich des Wohnens werden Typus und Wandel zu einer Einheit: Schlafen, essen, Gemeinschaften pflegen - das bleibt konstant; doch wie wir dies tun, kann sich im Laufe der Zeit ändern. Oder wenn ich an den Klosterstall denke, den wir in Disentis gebaut haben, so finden sich natürlich viele Konstanten, beispielsweise der Heuraum, der Mittelgang oder auch die Futtertenne. Weil die Kühe jenes Bauernhofes aber ihre Hörner behalten durften - was eigentlich zu einer Selbstverständlichkeit werden sollte -, mussten wir gewisse Masse anpassen. Kühe mit Hörnern brauchen mehr Raum, um sich und die anderen möglichst nicht zu verletzen.
Grundsätzlich meine ich, dass wir Menschen uns nicht so sehr wandeln, obwohl wir dies immer glauben. Betrachten wir jedoch die Kulturgeschichte, wird dieser Glaube nicht bestätigt. Wir möchten uns ja gar nicht so sehr verändern, wir verändern uns sogar ungern, ausser wenn wir dazu gezwungen werden oder einen Sinn oder Vorteil darin sehen.

Welche Sinne prägen in einem guten Haus unsere Wahrnehmung?

Generell bindet ein kluger Entwurf Rationalität und Emotionalität, also Verstand und Gefühl ein. Ich glaube, prägend ist die Präsenz der Materialien: Sie sind greifbar, man kann sie riechen, manchmal hören. Wenn wir am Abend an diesem Tisch, an dem wir jetzt sitzen, jassen, dann streichen wir mit der Hand über das Holz und fühlen es. Oder über einen Holzboden laufen, das ist sinnlich, das ist ein altes Thema. Das Klopfen auf einen Stein, ihn spüren, der Geruch des Holzes ... Bei ­einem jüngeren Bau habe ich mich gewissermassen selbst überwunden und eine Stube aus Arvenholz eingebaut. Arvenholz ist phänomenal, es riecht grossartig. Ich denke, das bedeutet Sinnlichkeit in einem Haus. Ja, ein Haus muss sinnlich sein, aber es muss auch strukturiert sein, muss etwas Rationales haben.

In deiner Antrittsvorlesung Ende Mai 2010 als Professor der ETH Zürich sprachst du von Erfahrungsraum. Kannst du dies etwas ausführen?

Mit Erfahrungsraum meine ich den Umstand, dass ich nur dann etwas erfahren kann, wenn ich ständig am Gleichen weiterarbeite, daran herumfeile. Dabei geht es vor allem um das Begreifen von Prozessen. Ich brauche Raum, Zeit und Möglichkeiten, Erfahrungen zu machen. Fehlen mir wichtige Erfahrungen, sinken gar meine Überlebenschancen.
Wissen durch Erfahrung ist nicht vergleichbar mit jenem, das ich mir über Information aneigne. Dort komme ich zu einer Menge von Daten. Was diese aber ­bedeuten, kann ich nur über den Verstand beurteilen. Hans-Georg Gadamer geht so weit, zu sagen, Wissen sei das Gegenteil von Information. Ich will deren Wert nun nicht generell negativ bewerten; Informationen sind wichtige Impulsgeber und Wegbereiter zu Erkenntnissen. Diese Impulsgeber musst du aber selber aktivieren; es wird erst interessant, wenn Informationen zueinander in Beziehung gesetzt oder an etwas gespiegelt werden.
Um aber Erfahrungen machen zu können, muss ich frei sein - mit allen Sinnen. Ich muss möglichst vorurteilslos an etwas herangehen. Ich muss mich von Vor­behalten wie von persönlichen Vorlieben befreien, sonst lande ich in vorgefassten Denkgefässen und Identitätszwängen. Erfahrungen besitzen, bedeutet auch um Realitäten wissen.
Ich denke zum Beispiel an das Unterhaus in Disentis, das direkt unter dem Kloster liegt und wo junge Mädchen wohnen, die oben zur Schule gehen, abends aber nicht zu ihren Familien heimfahren können, weil diese zu weit weg wohnen. Nun, eigentlich dürfen keine Jungs ins Wohnhaus der Mädchen, das war schon früher so. Gleichzeitig wissen wir aus Erfahrung, dass sie es doch versuchen und es auch tun. Beim Unterhaus, das am Hang gebaut ist, besitzt jedes Stockwerk einen eigenen Zu- und Ausgang. Gleichzeitig gibt es eine zentrale Verbindung zwischen den Geschossen. Man hat Wahlmöglichkeiten, man kann einander aus dem Weg gehen oder sich begegnen. Und es kann vorkommen, dass ein Junge sich hierhin verirrt. Will er nun nicht der Aufsicht in die Quere kommen, muss er sozusagen schlau mit der Wegführung operieren.
Solche Überlegungen standen natürlich nicht im Bauprogramm - sie sind dem Gebäude aussen auch nicht anzusehen. Doch derlei Situationen oder Momente ­wiederholen sich seit Jahrhunderten. Wir wissen aus Erfahrung, dass das Leben von jungen Menschen so funktioniert. Auch Vergnügen und Schmerz sind stete Partner von Erfahrungen. Architektur, die solche unverhofften Ereignisse zulässt, generiert wiederum Mehrwerte.
Aus eigenen Erfahrungen soll jedoch nie der Anspruch auf Wahrheit und grundsätzliche Gültigkeit erhoben werden. Eine derartige Haltung würde das Wesen von Erfahrung, das Kontinuität bedeutet, abrupt beenden. Erfahrungsräume, die nahe an den Prozessen sind, sind heute rar. Es gilt, solche zu schaffen. Der neue Stall des Klosters Disentis - jener der Kühe mit Hörnern - wurde vor kurzem vollendet. Er will ein Raum sein, wo wir Prozesse aus der Landwirtschaft wahrnehmen und begreifen können. Die Anlage hat auch eine pädagogische Funktion. Es geht dabei ­weniger um die Architektur selbst, sondern darum, was sie bereitstellt oder zulässt.

Erfahrung baut im Grundsatz auf Konstanten im Leben von Menschen auf. ­Welchen Einfluss hat das «zeitgenössische Baugeschehen» deiner Meinung nach?

Es ist problematisch, was heute zum Teil als zeitgemäss gesehen und gehandelt wird. In der Architektur beschränkt sich das sogenannt Zeitgemässe auf wenige Formensprachen, auf Stilelemente. Entweder man ist Teil dieses Trends, oder man ist nicht zeitgemäss. Dabei vergisst man, dass beispielsweise ein Chalet oder ein «Lättlihaus» oft nur aus verschiedenen Bildvorstellungen herrühren; über ihre Qualität sagt das nichts aus. Ich glaube aber, dass für das Erfassen von Qualität ein Verständnis der Prozesse und Bedingungen, die für bauliche Entwicklungen entscheidend sind, genauso wichtig ist wie das fertige Produkt.
Es gilt zu fragen: Mit welcher Sorgfalt wurde das Bauwerk entwickelt, wie hängen die wesentlichen ökonomischen, sozialen und kulturellen Faktoren zusammen? Ein Haus steht in einem Umfeld, einem sozialen, topografischen, auch einem visuellen Umfeld - ob ich dies als Architekt reflektiere oder nicht. Heute muss es ­darum gehen, die Atmosphäre eines Ortes zu stützen, indem man das Wesentliche erkennt und mit dem neuen Werk bestärkt.
Zeitgemäss ist mehr als nur Form. Ich behaupte, zeitgemäss ist derjenige, der die Probleme der eigenen Zeit erkennt und seine Arbeit oder seine Intervention darauf ausrichtet. Vielleicht findet man einen Lösungsvorschlag für ein Problem der Zeit. Oder man verfolgt Absichten, die etwas verbessern oder verändern können.

Welche Rolle spielt die Natur im Bauen? Während der Bauer meist eine ­sinn­gemäss mechanistische Haltung ihr gegenüber hat, leistet sich der Städter heute eine idyllische. Ich nehme an, du plädierst für eine Art «dritten Weg»?

Das ist ein Thema, das mich stark beschäftigt. Ich glaube, dass heute eine direk­tere Beziehung zwischen Mensch und Natur möglich ist, als die genannten Extrem­positionen. Ich meine damit weder die idyllische Position der Stadtmenschen - mit der Vorstellung einer zweckfreien Natur - noch die mechanistische des unkontrollierten und rücksichtslosen Wirkens. Auch nicht diejenige der Naturschutzorganisationen, die vorwiegend Verhinderungsstrategien verfolgen.
Ich glaube an eine Art Deckungsgleichheit zwischen Natur und Kultur, zwischen Natur und Kunstform. In dieser Idee sollte das Natürliche nicht prinzipiell wert­voller sein als das Künstliche, beide Seiten sind gleichwertig, ja, bedingen sich gegenseitig. Diese Deckungsgleichheit beinhaltet Rationales wie Irrationales. Darin enthalten wäre eine Nutzungsform, die von tiefem Respekt geleitet ist.

Jene Deckungsgleichheit - zwischen Landschaft nutzen oder konsumieren und im Alltag mit ihr leben - bedeutet sinngemäss Nachhaltigkeit.

Natürlich. Nachhaltigkeit kann man aber nur bis zu einem gewissen Grade ver­ordnen. Wenn ich sage: «Ihr dürft nicht zuviel Energie verbrauchen», ist das eine Anordnung. Aber langfristig müssen wir Menschen dorthin kommen, dass jeder Einzelne selbst Verantwortung für sein Tun und Lassen übernimmt. Gelingt dies nicht, werden wir die Schuld weiterhin den anderen zuschieben.
Nachhaltigkeit erreichen wir vor allem durch eine einfühlende Lebenseinstellung. Damit der Mensch Verantwortung übernehmen kann, was für eine grössere Sorgfalt entscheidend ist, muss der Raum seines Wirkens überschaubar werden. Unser Projekt, Orte zu schaffen, zielt in diese Richtung.

Worin liegt der Stellenwert des Lokalen, das heute ja tendenziell als dem ­Globalen unterlegen taxiert wird?

Nun, es gab vier grosse Themen, die die Rationalisten der Moderne des frühen 20. Jahrhunderts sinngemäss aufheben wollten oder für überflüssig befanden: Einmal das Mündliche, das für sie gegenüber dem schriftlich Festgehaltenen geringeren Wert hatte; dann das Lokale, das dem Internationalen oder Globalen unter­legen war; weiter das Besondere gegenüber dem Allgemeingültigen; und schliesslich das Vorübergehende, das in der Wertung dem Zeitlosen untergeordnet war.
Es ist klar, warum sie dies so wollten. Es sollte Schluss sein mit Emotion und Sinnlichkeit - denn Sinnenfreude und Emotionen führen zu Konflikten, sowohl ­religiösen wie gesellschaftlichen. Gerade in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg war das Bedürfnis gross, Konflikte möglichst dauerhaft auszuräumen; im Grundsatz gilt dies natürlich immer noch. Eine wichtige Aufgabe besteht heute sicherlich darin, religiöse «Gewissheiten» zu schwächen, aber auch Differenzen zwischen Kulturen in gegenseitige Akzeptanz zu überführen.
Ich denke gleichzeitig, es ist wichtig, die vier genannten Themen als Werte unserer Gesellschaft zurückzuerobern und wieder in unseren Alltag zu integrieren. Die Textur des Lebens ist ja nicht von allgemeinen Gegebenheiten geprägt, sondern von besonderen und eigentlich unwiederholbaren Ereignissen. Das Begriffspaar ­lokal/global ist im Grunde uralt und beinhaltet eigentlich keinen Widerspruch. Früher verwendete man die Begriffe des «Alltäglichen» und des «Fremden», heute sagt man «lokal» und «global». Doch gerade bei uns in den Bergen, wo die Welt früher so eng war, galt das Fremde als das Beste. Es war schliesslich wenig verfügbar für die alltägliche Existenz.

Das Fremde wird noch immer mit Abenteuer und Exklusivität assoziiert - das Alltägliche eher als langweilig und banal angesehen. Doch ist deren Verhältnis heute wohl nicht mehr so klar wie früher ...

Nun, heute ist es im Grunde eher umgekehrt. Wir merken, dass wir viel zu wenig vom Eigenen und vom Alltäglichen haben. Das Verhältnis hat sich gedreht; wir sollten wieder eine Balance zwischen den Polen herstellen. Die Frage lautet dann schnell: Wie aber produziert man das Eigene? Also, hierfür muss man sich - im ersten Moment - eines Urteils enthalten. Man muss sich im Kopf und bezüglich der Gefühle frei machen, innerlich befreien und öffnen, um möglichst ohne Vorurteile die Umwelt und die Mitmenschen zu betrachten, das eigene Leben zu reflektieren. Man ist natürlich immer in Denkgefässen gefangen, auch vor äusseren Einflüssen kann man sich nicht so ganz schützen - muss man auch nicht.
Dennoch gilt es, das Eigene zu sehen. Sinngemäss muss ich einen Schritt zurücktreten und Distanz gewinnen. Dann sehe ich plötzlich, vielleicht fast wie ein ­Fremder, was das Eigene, Persönliche, das Besondere am gewohnten Ort ist. Für mich ist eine Architektur des Lokalen gerade in einer Zeit, in der sich die Differenzen innerhalb der Kulturen auflösen, ein wichtiges Gebot.
Unter lokaler Architektur verstehe ich ein Bauen, das die Potenziale eines Orts und seine vorhandenen, «natürlichen» Möglichkeiten in sich vereint. Überschaubare Räume, zu denen man sich zugehörig fühlt, erzeugen persönlichen Willen und Verantwortung. Beides weist über die Architektur hinaus. In einer derartigen Vorstellung hat der «Duft der weiten Welt» ebenso Platz wie eine Autonomie der Architektur. Die Referenzen sind in der Präsenz wie in der Absenz
zu suchen.

Worin liegen die Herausforderungen des Bauens heute? Worauf ist hier in der Schweiz speziell zu achten?

Die grösste Herausforderung besteht darin, Orte zu schaffen, die kulturell geprägt sind - nicht primär durch ökonomische Forderungen -, wobei das Ziel kein absoluter Idealzustand ist. Ich glaube aber, dass es gelingen kann, Situationen zu schaffen, die so stark sind, dass sie eine Welt für sich bedeuten. Die Mittel dazu sind, wie eben gesagt, in der Präsenz wie in der Absenz zu suchen. Bezogen auf den Kontext Schweiz müssen wir sowohl die verschiedenen Kulturlandschaften pflegen, als auch aufräumen, nämlich in den Agglomerationen.
Mit dem Ziel, Orte zu schaffen, versuchen wir, das Besondere und Charakteristische einzelner Situationen zu erfassen und daraus Regeln für Neues zu entwickeln. Diese Art der kontextuellen Beziehung übernimmt nicht allein Bestehendes, sucht nicht nur Kontinuitäten oder setzt Grenzen oder ahmt gar nach; nein, das Bauen im Kontext verlangt gleichzeitig nach Andersartigkeit. Spezielle Nutzungen hatten in kulturell geprägten Umfeldern immer ihren eigenen Ausdruck. Auch der im Val Lumnezia heimische Strickbau erhielt durch veränderte Lebensformen und durch technische Errungenschaften eine andere Prägung. Das Lebensgefühl des Ortes wurde dadurch nicht geschwächt.
Starke Orte werden aber niemals geschaffen, wenn sich die Architektur, wie in der Tendenz in den letzten Jahren geschehen, nur am Objekthaften und an der Kunstform orientiert. Das heute verbreitete, rein objekthafte Denken genügt nicht. Sicherlich hat jedes Objekt einen bedeutenden Stellenwert, jeder Bau muss architektonisch bestmöglich ausgestaltet sein; ja, starke Gebäude können die Wahrnehmung eines Ortes beeinflussen und im Kontext erstaunliche Kräfte mobilisieren. Aber nur in seltenen Fällen reichen unsere Fähigkeiten aus, um solche Wirkungen zu erzielen. Das kann also nicht das «Rezept» sein, die Resultate beweisen dies nur zu deutlich! Heute ist klar: Mit dem objekthaften Denken werden Orte noch diffuser und verlieren ihre letzten Kräfte.
Ich möchte nochmals betonen: Was zählt, ist letztlich das architektonische Objekt, das Einzelobjekt - auch innerhalb eines homogen wirkenden Kontextes. Soll dieses Objekt aber etwas Referenzielles gegenüber seinem Kontext haben, so ist der Ausgangspunkt des eigenen Entwurfsdenkens von hoher Bedeutung. Die Basis wäre nun in der Kultur des Ortes und nicht primär innerhalb der «autonomen» Disziplin der Architektur zu suchen.

Die Orte, die ihr schaffen wollt, sind also starke Orte. Kannst du das weiter ­ausführen?

Nun, starke Orte hat der Mensch seit seiner Existenz stets gesucht und gefordert. Die Kraft eines jeden Orts aber liegt in seiner Differenz zu den anderen Orten. ­Differenz bedeutet hier nicht eine willkürliche Handlung, die primär zum Ziel hat, sich per se zu unterscheiden. Die Idee der Schaffung von Differenz liegt darin, auf eigene Stärken zu bauen und die Potenziale zu erkennen, die dafür eingesetzt werden können. Erkenne ich also etwa ein wesentlichesm Baumaterial innerhalb des ­relevanten Perimeters und verarbeite dieses mit den vorhandenen «Kräften» und ­eigenen Fähigkeiten zu einem Werk - wobei diese im Rahmen der Idee ständig zu überprüfen respektive zu erneuern sind -, so entsteht die angestrebte Differenz. Dieses Verhalten hat vorerst etwas von einer Art künstlichen Autarkie, bekommt jedoch im Laufe des Prozesses eine hohe Logik und Selbstverständlichkeit.
Solche Differenz produziert nicht nur einen überschaubaren und einzigartig ­wirkenden Ort, sie gibt den Menschen ein Zugehörigkeitsgefühl, eine Identität. ­Differenz als Ausdruck einer Beziehung - und nicht als «freie» Formfindung - ist die Grundform jeder Kultur. Kultur muss wieder zu einer Basis werden für unser Handeln. Ist sie abwesend, so müssen wir sie schaffen. Gehen wir von solch einer Perspektive aus, ist der Architekt vor jeder Aufgabe oder jedem Entwurf zuerst ­einmal Repräsentant einer Weltvorstellung - das Bauen steht erst am Ende eines solchen Denkprozesses.
Grundsätzlich stellt sich die Frage, ob es noch umfassendere, ja gar glaubhaftere Möglichkeiten für einen Ort gibt, sich zu unterscheiden, als jene, die auf ästhetische Leitbilder referieren und sich auf das Zeitgemässe berufen. Die Möglichkeiten des Bauens sowie der Verwirklichung eines Individuums sind längst nicht ausgeschöpft.

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Gion A. Caminada