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Pandemie und wie weiter? — Gilgian Gelzer

Letzter Teil der Interview-Serie, die in der Juni-Ausgabe des Kunstbulletin begann und auf Distanz Nähe versuchte zum künstlerischen Prozess, zu persönlichen und professionellen Aussichten auf auf eine mögliche Zukunft. Gemeinsamer Nenner der Stellungnahmen war die Anerkennung eines grundlegenden Wandels im Kunstbetrieb – der auch fällig wäre. Während in Frankreich die Infektionszahlen unablässig steigen, immer mehr Beschränkungen eingesetzt werden, zeigen sich die Konsequenzen gewünschter Verdrängung: die Realität bricht ein. Um sie zu gestalten, sind andere Aussichten nötig, die nicht auf ein Danach hoffen, das Jetzt fürchten, sondern mit dem Gegenwärtigen kreativ und engagiert umgehen. Da sie solche bietet, wurde die Serie in loser Folge weiter hier veröffentlicht, um zum Nachdenken anzuregen darüber, was wird, mit der Kunst.

Horizontlinien
Sennewald: Deine Arbeit erscheint mir in mancher Hinsicht wie der Versuch, sich in jene Spurrillen zu vertiefen, aus denen sich die Welt zusammenfügt, indem Du den Blick dazu einlädst, sich an ihren wohlgezeichneten Zügen festzuhalten. Viele Deiner Zeichnungen und Fotografien nutzen dafür den Bild-Effekt des Wiedererkennens – die Lust zu sehen, was wir schon gesehen haben. Dadurch wird oftmals erkennbar, was unseren Blick hält, wie er gehalten wird in den sich überkreuzenden Fäden fein gewebter Realität. Jetzt, im Moment großer Ungewissheit, scheint der Drang nach Rückversicherung, Vertrautem, Sicherheit groß. Was siehst Du kommen, wie würdest Du handeln – raus aus den Rillen oder noch tiefer hinein graben?

Gelzer: Seit langer Zeit hat sich meine Arbeit auf das Zeichnen konzentriert – heute sehe ich mich tatsächlich vor allem als Zeichner. Ich finde es allerdings sehr schwierig, auf eine Situation direkt zu reagieren, in der wir selbst stecken, im übrigen hatte ich selbst auch Covid-19, glücklicherweise in einer nicht allzu starken Form. Gleichwohl hielt mich das wie viele andere einige Zeit in einer Schockstarre, mit entsprechender Gegenreaktion bei Lockerung der Einschränkungen. Was mich besonders beeindruckt: es entstand während der Ausgangssperre so etwas wie eine Umkehrung von Raum und Zeit, wie man einen Handschuh umdreht. Man könnte fast sagen, dass die Dimensionen in ihrer kategorischen Funktion aufgehoben waren – was fern war, wirkte nah, der Innenraum wurde nach Außen gekehrt, kurze Zeitspannen schienen in die Länge gedehnt. Das zwang dazu, sich mit seiner unmittelbaren Umgebung zu befassen, so sehr, dass diese ausgedehnt wurde, ganz alltägliche Abläufe auf einmal ungeheure Bedeutung bekamen, Gewohntes Unbehaglich erschien. Diese Verschiebungen sind mit Erfahrungen des Zeichnens vergleichbar. Auch sie intensivieren Phänomene, die vorher winzig erscheinen oder gar nicht wahrgenommen werden. Beim Zeichnen entwickeln sie sich unterm Strich, Stück für Stück in einem eigenen Raum, erhalten Konsistenz, Dichte, profilieren sich als Präsenz, als Vibration. Dadurch wird etwas sichtbar, das auch in den Fotografien aufscheint, die seit langer Zeit meine Arbeit begleiten. Fotografie und Zeichnung, als komplementäre Praktiken sehr wichtig für mich, folgen entgegensetzten Prinzipien: In der Fotografie spielt die Wahl des Ausschnitts eine große Rolle, sie ist Aufnahme eines bestimmten Zeitmoments, eines eigenen Raumes. Die Zeichnung hingegen gehört in den Bereich der Freigabe, die Linie stellt sich aus im Sinne einer Ausgabe oder Verausgabung, verlangt Dauer, während die Fotografie dem festgehaltenen Moment zugehört. Fotografie ist in diesem Sinn immer Fragment, Zeichnung Gesamt- oder Ganzheit. Beide unterhalten sich, ohne je ineinander aufzugehen oder gar Vorbild des jeweils anderen zu sein. Bei der Fotografie interessiert mich übrigens weniger das Bild als vielmehr die Erfahrung der Aufnahme, die einem Moment der Bewusstwerdung entspricht. Ich nehme Bilder auf, wenn ich an der Realität zweifle, wenn sie zweideutig, unsicher erscheint. Diese Kipp-Situationen im Alltag fange ich mit der Fotografie ein. Hier liegt vielleicht eine Entsprechung mit der Pandemie-Situation: es ist ein aufgehobener Moment, der aufscheinen lässt, was unserer Existenz ohnehin grundsätzlich zueigen ist, das aber im Augenblick der Krise zu Bewusstsein gelangt. Wie die Fotografie wird es für eine bestimmte Dauer möglich, Latenzen aufzunehmen, Verbindungen, Verflechtungen, Vibrationen zu erkennen, die uns, das Leben, die Wirklichkeit ausmachen. Ich muss an John Keats’ Begriff der „negativen Fähigkeit“ denken, dieses Vermögen sich inmitten von Unsicherheiten, Rätseln, Zweifeln zu halten, ohne unbedingt zu Fakten oder zu Verständigem zu gelangen. Nichts ist festgelegt. Vielleicht kann ich auf die Frage nach künftigem Handeln mit dem Titel einer Publikation reagieren, an der ich teilgenommen habe: „Die Imagination ist ein Ort, an dem es regnet“.* Gilt es jetzt nicht zu fragen: was ist Regen?
Paris-Malakoff, 7. Juli 2020
http://www.gilgiangelzer.com/

 J. Emil Sennewald, Kritiker und Journalist, unterrichtet an der Kunsthochschule ésacm in Clermont-Ferrand und der F+F Schule in Zürich, berichtet seit über 15 Jahren über Kunst aus Frankreich. emil@weiswald.com, www.weiswald.com

*Camille Saint-Jacques, Eric Suchère (dir.), L’imagination est un lieu où il pleut. Gilgian Gelzer & pratiques contemporaines, Paris, Galerie Jean Fournier, 2014

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Gilgian Gelzer

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