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Karen Geyer ist eine Künstlerin, die mit unermüdlicher Experimentierfreude Töne aus selbst konstruierten Klangkörpern zu entlocken versucht. Dabei sind Töne für sie mehr als nur Frequenz, Amplitude, Klangfarbe und Tempo. In ihrer jüngsten Arbeit mit dem selbstironischen Titel «Versuch einer Übersicht über das letzte Jahrhundert des zweiten Jahrtausends» (2007) hat Geyer den Entstehungsprozess ihres Werks um zeitlich und tonal ungewohnte Dimensionen erweitert.

In rund 67 Stunden Interview-Aufnahmen mit Zeitzeugen im Alter von 80 bis über 100 Jahren hat die Soundtüftlerin Stimmungen und Aussagen alter Menschen im deutschsprachigen Raum und jüdischer Emigranten in New York über ihr Schicksal unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg eingefangen, die von der typischen Unbefangenheit alter, aber vom Leben stark gezeichneter Menschen zeugen.

Es ist zu Recht viel Tinte zum Thema der jüdischen Diaspora im 20. Jahr- hundert geflossen, Karen Geyers Tonaufzeichnungen dieser noch lebenden Zeitgenossen macht einem aber zweierlei bewusst: zum einen die immanente, tonal so fein nuancierte Individualität jedes einzelnen Schicksals, und zum anderen die Tatsache, dass es nicht mehr viele und immer weniger Augenzeugen eines der schrecklichsten Zeitabschnitte der Mensch- heit gibt, denen wir zukünftig noch zuhören können werden.

«Oral History» ist eine Form der Geschichtsschreibung, die all das zu Protokoll gibt, was quantitativ nicht operationalisierbar ist. So geht es hier um Gefühle, Stimmungen, Erinnerungen. Die Künstlerin verquickt diese so starken, unvermittelten Stimmen mit subtilen, sich selbst spielenden Instrumenten mit dem Ziel, ungehörte Geräusche hervorzurufen. Diese Instrumente werden zu einem spielerischen Schattenspiel inszeniert, welche die Parallele zwischen ungehörten Stimmen und unbeachteten Geräuschen suggerieren. Gewohnte Rezeptionsvorgänge werden gekippt: Während die visuelle Ebene des Schattenspiels hier lediglich der «Untermalung» dient, ist die Tonspur eigentlicher Informationsträger und lotet den akustischen Spielraum nicht nur ästhetisch, sondern auch historisch in ungeahnte Gefilde aus.

Wir kennen das Hören als spannendes Erlebnis und lernen das Zuhören als Mittel, um sich näher zu kommen, wieder neu kennen. Catherine Hug

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Karen Geyer