Pia Lanzinger - Ausgekochte Geschichten

New German Washout, 2008, Videostills und Found Footage © ProLitteris Zürich

New German Washout, 2008, Videostills und Found Footage © ProLitteris Zürich

Fokus

Nur über die stete Beschäftigung mit dem Vergangenen lässt sich die Zukunft anders denken. In den letzten Jahren ist diese Einsicht vermehrt in den Blickwinkel der Kunst gerückt. Pia Lanzinger gehört zu jenen KünstlerInnen, die seit Jahren vielfältige Strategien entwickeln, sich mit der Geschichte bestimmter Orte auseinanderzusetzen. Ob als Video- oder Soundinstallationen, Fotografien, Exkursionen oder Stadtwanderungen, Lanzingers mediale Spurensicherungen fördern immer wieder Unerhörtes und noch nie Gesehenes zutage und schaffen Möglichkeiten, das Publikum zu involvieren.

Pia Lanzinger - Ausgekochte Geschichten

«Als sich das Ehepaar S. Ende der Sechzigerjahre die erste Waschmaschine leisten konnte, war das für sie ein beeindruckendes Erlebnis. Sie sassen beide davor und beobachteten, wie es sich dreht und macht und tut.» In Pia Lanzingers aktueller 2-Kanal-Videoinstallation «New German Washout», 2008, sitzen wir so wie das Ehepaar S. vor der Waschmaschine und gucken in die Wäsche. Genauer gesagt, wir schauen auf das Monitorbild einer sich drehenden Waschmaschinentrommel sowie auf die Projektion eines 44-minütigen Films. Darin werden zehn Wolfsburger BürgerInnen und deren Wohnungen vorgestellt, die im Zuge der Nachkriegsmoderne gebaut wurden. Die Kamerafahrt beginnt bei der Haustür, führt in gleichbleibender Aufmerksamkeit durch die Wohnung und dann zu einem Fenster wieder ins Freie hinaus. Sie streift die schweigenden BewohnerInnen und den eingeschalteten Fernseher, in dem wir in einer fiktiven Fernsehsendung eine Sprecherin sehen, deren vorlesende Stimme wir schon vorher gehört haben. Die Aufnahmen der Wohnungen werden unterbrochen durch Found-Footage, das aus Dokumentar-, Amateur-, Werbe- und Spielfilmen über Wolfsburg und VW aus der Perspektive eines Autofahrers besteht.

Vorbildliche Arbeiterstadt
Wolfsburg wurde 1938 von den Nationalsozialisten als vorbildliche Arbeiterstadt geplant. Bei Kriegsende zog VW viele Arbeitssuchende an. Seither gab es, wie ein Werbefilm aus den Fünfzigerjahren euphorisch suggeriert, keine Massen dreckiger Menschen mehr, sondern nur noch Massen sauberer VW-Käfer: «Das Auto gibt ein Selbstwertgefühl und dieses Selbstwertgefühl spornt an zu grösseren Leistungen.» Prägnanter könnte das Motto des Konsumkapitalismus nicht auf den Punkt gebracht werden. Die Stadt, zusammengesetzt aus Satelliten im Grünen, ihr Puls, eine einzige fahrende, rollende Autobahn, ihre Struktur, eine reibungslose Maschine. Nahe am Eisernen Vorhang situiert, war man aber auch, wie ein Herr K. meint, «am Ende der Welt». Um etwas zu erleben, fuhren die Menschen nach Braunschweig oder Hannover, ihre neu aus dem Boden gestampften Wohnungen versuchten sie, heimelig einzurichten.
Pia Lanzingers «New German Washout» entstand als neu konzipierter, ortsspezifischer Beitrag für die grosse Überblicksausstellung «Interieur/Exterieur. Wohnen in der Kunst» im Kunstmuseum Wolfsburg. Brisant an der Arbeit ist, wie sie die klischeehaften Geschichten vom modernen Wohnen konterkariert, indem sie Betroffene zu Wort kommen lässt. So erzählt Herr Q., dass seine Mutter aus einem herrschaftlichen, aber emotional kalten Haus kam, das im funktionalen Bauhaus-Stil eingerichtet war, und dass sie als Reaktion darauf in ihrer eigenen Wohnung barocken Schnörkel anhäufte. Und auch Herr K., der Ausstellungen über gute Form organisierte, weiss, dass sich die Leute letztlich nicht «normieren» lassen wollten, auch nicht über den «richtigen» Stil.

Überlagerung vom Gestern und Heute

In der Videoinstallation kommt ein wichtiges ästhetisches Mittel zum Tragen: Die Überlagerung und Parallelisierung von Orten, Zeiten und Stimmen. So befinden wir uns visuell immer in der heutigen Wohnung, während die Leute von ihrer damaligen ersten sprechen. Während die Geschichten mitunter Unerhörtes und Peinvolles enthalten, sind viele der Found-Footage-Filme tendenziell dem Fortschrittsoptimismus verpflichtet. Diese Brüche und Überlagerungen werden durch die 2-Kanal-Installation und die wechselnden Drehbewegungen der Waschmaschinentrommel verstärkt und die Diskontinuitäten korrespondieren mit den Abgründen der Porträtierten, auch wenn deren Erzählungen geschönte Varianten ihrer erlebten Geschichte darstellen. Die Kurzabrisse über ihre erste Wohnung und ihr Leben sind der Form nach fernsehgerecht verpackt und mit freundlicher Frauenstimme vorgetragen. Da gibt es kein Stottern und Zagen, keine Wiederholungen und Beteuerungen. Auch werden die Menschen nicht als Sprechende gezeigt, sondern als Bild und als Teil ihrer Wohnung. Diese Strategie der Distanzierung macht deutlich, dass eine erinnerte Geschichte immer eine konstruierte ist.

Medien und Mythen kommen dem Bedürfnis nach einer sinnvollen und kohärenten Geschichte, nach einer, die zeigt, dass man es geschafft hat und weitergekommen ist, mehr oder weniger weit entgegen. Dazu müssen aber gewisse Dinge verdrängt oder rein gewaschen werden, was hier mit dem Bild der Waschmaschine als metaphorischer Säuberungs- und Verdrängungsmaschine angedeutet wird. Sie steht sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene repräsentativ für die Fünfzigerjahre, die darum bemüht waren, die Erfahrung der nationalsozialistischen Vergangenheit zu neutralisieren.

Um Brüche geht es Pia Lanzinger auch im ortsspezifischen Projekt «Global Village 4560. Eine begehbare Landkarte» für das Festival der Regionen in Oberösterreich, 2007. Bei diesem Projekt stand die Überlagerung von Nähe und Ferne zur Debatte. Lanzinger wählte in Kirchdorf verschiedene Orte aus, die einen Bezug zur Ferne markieren, etwa ein Café, das mit einer Werbeskulptur aus Kaffeebohnenmännchen und -Säcken für seine kenianische Kaffeespezialität warb. Diese Orte verknüpfte sie mit Geschichten von Menschen, die Beziehungen zu jenen fernen Ländern haben, und die sie über eine Reihe von Interviews in Erfahrung brachte. So lesen wir in besagtem Café auf einer nachempfundenen Glacékarte die Geschichte von Brigitte Schwarz, die heute teilweise in Kenia lebt und sich in ihrer österreichischen Heimat für afrikanische Migrantinnen engagiert. An einem Kino hängt ein Banner mit «Kanada» und Willi Heikenwälders Statement «Ich vermisse nichts, es gibt kein zurück, keine Wehmut.» Ein Kinoplakat im Programmkasten, illustriert mit Zitaten die Geschichte dieser Familie, welche die Region verliess, weil sie im Kampf gegen die mit allen Mitteln durchgesetzte Autobahn Repressalien erleiden musste. Auch hier vernehmen wir unerhörte Geschichten und merken, die globalen Verstrickungen sind kompliziert, hintergründig und individuell. Und womöglich bietet in unserer globalisierten Welt die nächste Ecke mehr Abenteuer als die meisten touristischen Reiseziele. So kam das Projekt auch bei BewohnerInnen der Stadt gut an, weil sie plötzlich an der Hausmauer lesen konnten, dass beispielsweise auch die lokale Chinarestaurant-Betreiberin ihre Hoffnungen und Ängste hat.

Das Schwimmbad als literarischer Ort
Vielstimmigkeit und Bewegung sollen auch das noch zu realisierende Kunst-und- Bau-Projekt «Lesestoff für den Barfussbereich» prägen. Pia Lanzinger reagierte auf den geplanten Umbau des Hallenbads City in Zürich, der neben der Sanierung auch die ursprüngliche Architektur von Ende der Dreissigerjahre wiederherstellen will, mit dem Vorschlag, die Miet-Badetücher mit literarischen Zitaten zu bestücken. Auf knalligem Frottetuchgrund werden uns Sätze von Paul Valéry oder John von Düffel entgegen leuchten wie: «Fast alle Probleme im Leben lassen sich durch Schwimmen lösen.» Diese Intervention geht von der Beobachtung aus, dass jetzt schon viele BesucherInnen des Hallenbads ein Badetuch mieten. «Die Verteilung der literarischen Objekte im Raum, die sich von den anderen Badetüchern deutlich abheben werden, korrespondiert mit den Personen, die sich im Bad aufhalten, und mit ihren Bewegungen: Mal liegen sie auf Stufen, mal hängen sie an Geländern und mal wandern sie um Körper gewickelt durch das Bad. Durch diese Formationsmöglichkeiten werden im Schwimmbad immer neue und unterschiedliche visuelle Konstellationen erzeugt - ein performatives Moment, das die Nutzer des Bades in das Kunstwerk subtil mit einbezieht. Neben der dynamisch-dekorativen Wirkung markieren die eingewobenen Texte einen literarischen Raum, in dem das Schwimmen als moderne Erfahrungsdimension zur Sprache kommt.» Mit diesem Zitat hält Pia Lanzinger treffend fest, was sie mit jedem Projekt zu initiieren sucht: Einen Raum zu schaffen, in dem die Dinge durchgewaschen, aber nicht rein gewaschen und schon gar nicht zu lange gewaschen werden. Denn es geht um das Eröffnen von Denkmöglichkeiten und nicht um deren Schliessung.

Yvonne Volkart ist Dozentin für Kunsttheorie an der HGK FHNW, Aarau/Basel, und lebt als freie Autorin und Kuratorin in Zürich.

Pia Lanzinger (*1960, München) lebt in Berlin
Projekte/Ausstellungen ab 2004
2007 «Global Village 4560. Eine begehbare Landkarte», in: «Fluchtwege und Sackgassen», Festival der Regionen, Kirchdorf an der Krems/Oberösterreich
2006 «Vor den Kopf gestossen», in: «for example S, F, N, G, L, B, C - » Eine Frage der Grenzziehung. Dritter Teil der Thematischen Projektreihe «Kolonialismus ohne Kolonien? Beziehungen zwischen Tourismus, Neokolonialismus und Migration», Shedhalle Zürich; «Nowa Huta History Playground», in: «Industrial Town Futurism. 100 years Nowa Huta», Wolfsburg, öffentlicher Raum, Nowa Huta/Polen
2005 «COOLHUNTERS. Jugendkulturen zwischen Markt und Medien», ZKM in der Städtischen Galerie Karlsruhe
2004 «Terrassenparty. Archiv einer Wohngemeinschaft», in: «Privatgrün 2», Kunstraum Fuhrwerkswaage in Gärten und Terrassen im Kölner Stadtraum; «WorldWideWob», in: «Schrumpfende Städte», KW - Institute for Contemporary Art, Berlin; «Ein Blick in die Zukunft - zurück zur Erde», Lichthaus Plus Neue Kunst, Bremen

Until 
12.04.2009

«New German Washout», in: «Interieur/Exterieur. Wohnen in der Kunst», Kunstmuseum Wolfsburg, Katalog, Hg. Markus Brüderlin, Annelie Lütgens. Hatje Cantz, 2008
«made in munich. editionen von 1968-2008», Haus der Kunst, München, bis 22.2.
Kunstverein Langenhagen/Hannover, Einzelausstellung, 8.5. bis 14.6.
«Fifty/Fifty, Kunst im Dialog mit den 50er-Jahren», Wien Museum, 14.5. bis Mitte Oktober
«Lesestoff für den Barfussbereich», 2007 zur Realisierung ausgewähltes Projekt im Rahmen eines geladenen Kunst und Bau Wettbewerbs, Hallenbad City, Zürich, vorraussichtliche Realisierung 2011
«Sammle Geschichte!», zur Realisierung ausgewähltes Projekt für eine strukturelle Form des Erinnerns an die Verbrechen der Nationalsozialisten im Stadtraum von Braunschweig im Rahmen des geladenen Wettbewerbs «Software der Erinnerung», voraussichtliche Realisierung 2009/10

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