Kunstlehre - Zwischen dem Ruf nach politischer Relevanz und postdigitalem Materialwissen

Bildbetrachtung an der Hochschule für Gestaltung und Kunst Basel, 2010. Foto: Mimi von Moos

Bildbetrachtung an der Hochschule für Gestaltung und Kunst Basel, 2010. Foto: Mimi von Moos

Fokus

Anlässlich der Plattform 2011 im ewz-Unterwerk Selnau in Zürich, die sich als Schaufenster von Kunsthochschulen versteht, sowie dem Theaterfestival ‹Blickfelder› für Jugendliche wollten wir von acht Lehrerinnen und Lehrern wissen: «Was heisst es heute, Kunst zu unterrichten? Mit welchem Rucksack möchten Sie die Studierenden bzw. Schülerinnen und Schüler ins Leben entlassen?» Angefragt haben wir Kunstschaffende, eine Hochschulleiterin, Kuratoren und Lehrer. Die aktuelle Ausgabe des Kunstbulletins wird an 400 Dozierende verschickt und möchte auch Aussenstehenden einige erhellende Einblicke in den Kunstunterricht vermitteln.

Kunstlehre - Zwischen dem Ruf nach politischer Relevanz und postdigitalem Materialwissen

Die Welt verändern mit postdigitalem Materialwissen
Im Zentrum der Ausbildung steht für mich die Herausforderung, junge Menschen dabei zu unterstützen, ihre eigenen künstlerischen und autorschaftlichen Kompetenzen herauszubilden - ihr Verhältnis zur Welt bewusst wahrzunehmen und in eigenständiger Form zum Ausdruck zu bringen. Qualität ist in der Kunst nicht mit Kennzahlen messbar, aber sie ist verhandelbar im Diskurs zwischen Lehrenden und Lernenden, in einer vertrauensvollen, aber auch herausfordernden und kritischen
Atmosphäre.
Daneben gibt es für mich klare Ausbildungsziele: Die jungen Künstler/innen lernen das Betriebssystem Kunst in Form von Ausstellungen und Vermittlungsprojekten zusammen mit Kunstinstitutionen kennen. Zentral ist zudem der Bereich des Transdisziplinären: An unserer Hochschule arbeiten die Studierenden in fächerübergreifenden Kooperationen. Sie lernen, die Qualität ihrer eigenen Arbeit im Kontext der zeitgenössischen Szene zu beurteilen. Und sie erlernen Techniken der Analyse von Politik und Gesellschaft, um ihre Arbeiten präzis in der Welt zu positionieren. Die Spezialität in der Luzerner Philosophie der Kunstausbildung ist die Vermittlung von Skills in den zehn Werkstätten, die von Holz, Kunststoff bis zu den digitalen Techniken reichen. Hier erhalten die Studierenden, häufig schon «digital natives», die gestalterischen Kompetenzen, um ihre kreativen Vorstellungen zu materialisieren. Ich bin überzeugt davon, dass postdigitales Materialwissen eine der Kernkompetenzen ist, mit denen Künstlerinnen und Künstler in Zukunft die Welt verändern.
Gabriela Christen, Direktorin der Hochschule Luzern - Design & Kunst.

«Kunst als Verfahren» vermitteln
Der Hintergrund: In den letzten vier Jahrhunderten hat sich die Gesellschaft gewaltig, die Kunstausbildung kaum verändert: Man mentoriert die zukünftigen Kolleg/innen in ihrer «Originalität», vermittelt Handwerk (Technologien) und gibt Einblicke in die Kunst- und Kulturtheorie und -geschichte (heute auch in die Medientheorie).
«Artistic creativity has much to do with experience, observation and imagination, and if any one of those key elements is missing, it doesn't work», fasst Bob Dylan seine Erfahrungen zusammen. Dazu kommen: Neugier, eigene Themen/Fragestellungen, feu sacré/Obsessionen, Experimentierfreude, die Bereitschaft, sich in Krisen stürzen zu lassen - und sich wieder herauszuarbeiten, Durchhaltewillen, Lust auf Reflexion, Wille zur Kollaboration und zu Cross-over-Projekten und, unabdingbar: eine eigene Haltung.
1460 Antworten zur Frage: Was ist Kunst? war der entwaffnende Titel eines Buches im Jahre 2000. Was ist ein Künstler/eine Künstlerin?, ergäbe ähnlich viele Antworten. Die Konsequenz: Es geht heute in der Kunst-Ausbildung nicht länger darum, einzig Künstler/innen auszubilden, sondern vielmehr «Kunst als Verfahren» für unterschiedliche Studierende in einem gemeinsamen Studiengang zu vermitteln.
Die Gesellschaft braucht Künstler/innen - und sie braucht tiefgreifendere Fotografie in Printmedien, Fernsehfilmen, Radio, Netzauslotungen, neue Interventionen in unterschiedliche Öffentlichkeiten, auch in den oft verpönten «creative industries».
Giaco Schiesser, Direktor des Departements Kunst & Medien der ZHdK, Zürich.

Nachahmen, übersetzen, transformieren
Am meisten schöpfe ich aus meiner eigenen Arbeit. Durch Transparenz über mein Schaffen möchte ich Einblick in Arbeitsprozesse und Arbeitsumfeld - Verleger, Galeristen, Kuratoren, Künstlerinnen und Künstler - ermöglichen. Die Studierenden sollen für sich ein individuelles Künstlerbild finden und entwerfen und dabei in einen langsamen, geduldigen, unkündbaren, eigenen Findungsprozess verwickelt werden. Mein Bereich sind dreidimensionale Kunst und Installation. Experimente mit Ton werden beispielsweise fotografisch, zeichnerisch oder mit Video festgehalten und danach wieder aufgelöst. Durch diese Umsetzung werden die Gedanken oder das damit verbundene Konzept sichtbar und gewinnen an Klarheit und Bedeutung.
Studierende sollen Selbstregie lernen, Choreografien formulieren und Beziehungen zwischen einzelnen Teilen der Arbeit schaffen. Abschauen ist eine der besten Entwicklungsgrundlagen, Fehler machen oder sie vermeiden - ein öffentliches Abschauen, bei dem auch klar wird, dass die Kunst nicht nur aus der Erfindung heraus passiert. Nachahmen, übersetzen, transformieren sind ebenfalls Schritte, die gelernt werden können. Die Studierenden sollen an echtem Selbstvertrauen gewinnen. Ich möchte sie mit einem schwebenden, mit Sauerstoff gefüllten Bündel entlassen: Sauerstoff für einen langen Atem, um einen lebendigen präzisen Arbeitsprozess zu einem Werk zu führen und auch in dünner Luft die Übersicht zu behalten.
Daniela Keiser, Künstlerin und Dozentin an der Hochschule der Künste Bern.

Dem Alltag etwas entgegensetzen
Ich lege Wert auf eine offene, kritikfähige und konstruktive Gesprächskultur zwischen den Studierenden und den Dozierenden. Ein zentrales Gefäss an unserem Institut bildet das ‹Forum Kunst›. Hier unterrichten wir in einem Dreierteam eine Gruppe von Studierenden, die sich aus allen drei Bachelor-Jahrgängen zusammensetzt. Kernpunkt sind die gemeinsamen Besprechungen mit Präsentationen von individuellen Projekten, welche die Studierenden mit unterschiedlichen Medien konfrontieren und sie so zu ihren eigenen künstlerischen Entscheiden finden lässt. Natürlich gehören auch Besuche von Ausstellungen dazu, die wir jeweils intensiv diskutieren. Wir üben vor den Originalen das Betrachten und das gewagte Widersprechen.
Ein grosses Anliegen sind auch die gemeinsamen Ausstellungsprojekte. Diese Gruppenausstellungen mit Bachelor- und Masterstudierenden finden jeweils bewusst in einem Ausstellungsraum ausserhalb der Schule statt. Auch hier werden die persönlichen Ideen und Haltungen der Studierenden diskutiert. Die Auseinandersetzung mit praxisnahen Fragestellungen sind wichtige Stationen auf dem Weg in die zukünftige künstlerische Praxis. Ich versuche den Studierenden etwas von meiner Erfahrung weiterzugeben. Sie in ihrer individuellen künstlerischen Ausdrucksweise zu fördern und dazu zu ermutigen, Wagnisse einzugehen. Dazu gehört auch der Prozess des Scheiterns und des Sich-wieder-Erfindens. Ich möchte ihnen Mut machen mit der eigenen künstlerischen Haltung dem Alltag etwas entgegenzusetzen.
Katrin Freisager, Künstlerin und Dozentin an der FHNW, Basel.

Den Unterricht ins Kunsthaus verlegen
Durch die vorteilhafte Lage unserer beiden Kantonsschulen können wir den Kunstunterricht ohne grossen Aufwand vom Schulzimmer ins Kunsthaus verlegen. Diese Besuche sind zur didaktischen Selbstverständlichkeit geworden und ermöglichen eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Kunst. Doch was heisst es heute, Kunst zu unterrichten? Sicher ist ein breites Methodenrepertoire von Vorteil, doch dieses garantiert noch keinen Erfolg. Wichtiger ist die persönliche Begeisterungsfähigkeit der Lehrperson für die Sache und das Gewähren eines Freiraumes für unverkrampftes Befragen und Experimentieren. Zudem sollen Schülerinnen und Schüler, entgegen der allgemeinen schulischen Gepflogenheit, wieder vergessen lernen, Wahrnehmungskonventionen fallen lassen, neu sehen.
Im laufenden Semester besuchte ich mit meinen Schülern neben den Aargauer Ausstellungen auch Thomas Struth (Kunsthaus Zürich), Matthew Barney (Schaulager), Rodney Graham (Museum für Gegenwartskunst) und die Sammlung des Kunstmuseums Basel. Das Feedback hat mich sehr überrascht. Am intensivsten in Erinnerung blieben ihnen die Bilder aus der Sammlung des Kunstmuseums Basel ‹Tierschicksale›, 1913, von Franz Marc und ‹Christus im Grabe›, 1522, von Hans Holbein d.J.
Mein wichtigster Auftrag scheint mir, zu zeigen, nach welchen Strategien und Ordnungsprinzipien ein gestalterischer Rucksack gepackt werden könnte. Gleichzeitig stelle ich jedoch mit Gelassenheit fest, dass meine Schülerinnen und Schüler eigene Strategien entwickeln, welche mir nicht selten chaotisch vorkommen.
Otto Grimm, Künstler und Lehrer an der Neuen Kantonsschule Aarau.

Mit Begeisterung anstecken
Mama schmückt gern, auch die Gräber ihrer Eltern. Papa findet für alles eine Lösung. Mänu mag Details. Miri G.'s Begeisterung für die Sache ist ansteckend. Wahrnehmen, sich einlassen. Anpacken, etwas wagen. Freude haben.Darum geht's mir im Gestaltungsunterricht. Gerne hätte ich jeweils mehr Zeit mit allen und für jeden Einzelnen. Oft stelle ich vor der Lektion an jedem Arbeitsplatz ganz viel Material bereit. Wir beginnen mit einer Reihe von Übungen und Kurzaufträgen, wild durcheinander. Es geht zügig voran. Am Schluss haben alle einen Stapel Anfänge. Diese bilden die Grundlage für weitere Auseinandersetzungen: Die Schülerinnen und Studenten legen Ordnungen an, überarbeiten immer wieder, erhalten gezielte Anregungen von mir und Klassenmitgliedern und gehen nach und nach immer eigenständiger und gezielter vor. Im Klassenverband werden Ergebnisse betrachtet, man steht zurück, diskutiert, zeigt, staunt, kritisiert, lässt offen, arbeitet weiter. Ich gehe umher, weise auf etwas hin und lobe. Ich bin neugierig und ermutige und verwirre. Ich zeichne selbst. Meine Launen und meine Art lasse ich zu. Die Schülerinnen und Studenten sind gestalterisch tätig. Sie entdecken, erfinden, riskieren und haben auch mal keine Lust. Sie gehen weiter, lassen sich überraschen und beziehen den Zufall mit ein. Sie entwickeln Vertrauen, auch wenn sie mal wieder feststecken. Hoffentlich werden sie nie ganz fertig und beginnen immer wieder neu.
Toni Parpan, Künstler und Primar- und Oberstufenlehrer, Bern/Langenthal.


Das Bewusstsein für das Politische schärfen

Kunst aus Ländern mit kolonialer oder diktatorischer Vergangenheit hat eine grös­sere soziale Bedeutung und politische Reichweite, als dies in den wohlstandsgesättigten und demokratiegewohnten Industrieländern üblich ist. Diese Erkenntnis im Zusammenhang mit der Ausstellungsvorbereitung zu ‹Dislocación - Kulturelle Verortung in Zeiten der Globalisierung› für das Kunstmuseum Bern weckte in mir das Bedürfnis nach Auseinandersetzung mit radikalen Figuren wie dem Filmemacher Pier Paolo Pasolini, der nicht nur formale Radikalität entwickelte, sondern zugleich soziale und politische Radikalität einforderte. Es erscheint mir heute logisch und konsequent, das eigene kulturelle und künstlerische Schaffen vermehrt unter politischen Vorzeichen anzuschauen. Das befreit die Kunst von ihren blutleeren Posen, die sie als hundertste Insider-Referenz gegenüber anderen Insider-Referenzen erbringen muss, um gewissen Menschen soziale Distinktion zu garantieren. Wird nicht von jeder Ausstellung, von jedem Kunstschaffenden ständig der Nachweis sozialer und kultureller Relevanz erwartet? Und könnte diese Relevanz nicht anders bewiesen werden als mit dem schwachen Argument der Zuschauerfrequenz?
Jungen Künstlerinnen und Künstlern sollte ein neues Bewusstsein für das Politische ihrer eigenen Situation beigebracht werden. Diese Art der Selbstbefragung und der sozialen Recherche bringt uns als Gesellschaft weiter als das selbstgefällige Wiederkäuen der eigenen kultivierten Privilegiertheit.
Kathleen Bühler, Kuratorin und Dozentin an der F+F, Zürich.

Die Dominanz des Theoretischen in Frage stellen
Ich lehre Kunstgeschichte und Kunsttheorie. Es geht darum, den Zugang zu geistigen Mitteln zu erleichtern, die es den Studenten ermöglichen, über ihre eigene Arbeit nachzudenken und ihre künstlerischen Anliegen entschieden ins Werk zu setzen. Ich habe keine Lehre, ich weiss nichts, was die Künstlerinnen und Künstler im Studium können und wissen müssen. Ich weiss, was ich selbst nicht weiss und gern wissen möchte, und ich nehme an, dass es bei den Studenten ebenso ist. Bei der Entscheidung für ein bestimmtes Lehrangebot versuche ich, einen Schnittpunkt der verschiedenen Vektoren des Nicht-Wissens-aber-wissen-Wollens zu finden. Ich unternehme wenig, um die Teilnehmer an meinen Veranstaltungen zu motivieren, selbst das Wort zu ergreifen. Wenn aber jemand eingreifen möchte, ist dafür immer Zeit. Manchmal rede ich allein während einer oder zweier Stunden in der Erwartung, meine eigenen Bemühungen um den jeweiligen Gegenstand regten die Zuhörer an, selbst den ihnen entsprechenden Weg zu suchen. Ich habe keine Lehre, aber ich habe Auffassungen über einige Dinge, die ich äussere und zur Diskussion stelle. Eines der wesentlichen gegenwärtigen Probleme in der Kunst sehe ich darin, dass sprachliche und theoretische Diskurse, Wissen und Wissenserwerb an die Stelle von sinnlichen, zu sehenden, bildlichen Arbeiten gestellt werden. Eine Herausforderung an meine theoretischen Bemühungen besteht darin, die Dominanz des Theoretischen in Frage zu stellen.
Ulrich Loock, Kurator und Kunstkritiker, Dozent an der HKB Bern, lebt in Berlin.

Sich selbst als Mensch entwickeln
Kunst schafft in jedem Fall etwas, das es in dieser Weise in der Gesellschaft sonst nicht gibt - oder aber sie öffnet den Blick für etwas, was vorher unsichtbar war.
Eine Leistung des Künstlers für die Gesellschaft kann also darin bestehen, dass er sich selbst als Mensch entwickelt. Damit wäre auch eine erste Aufgabe für eine Kunstausbildung formuliert: Sie soll jungen Künstlern dabei helfen, sich selbst als Menschen zu formen. Eine zweite Leistung kann sich daraus ergeben, dass die Rolle des Künstlers in der Gesellschaft eine grosse Bandbreite von Möglichkeiten zulässt. Die Kunstausbildung soll ihn unterstützen, aus diesem Mehr an Freiheit alternative Betrachtungsweisen zu entwickeln, die vermitteln: Ach, so kann man das auch noch sehen, darstellen, machen, empfinden etc.
Nun gibt es aber wohl Fälle, in denen sich diese neue Betrachtungsweise nicht so leicht erkennen lässt. Da müsste die Lust des Publikums provoziert werden, an dieser Art des Sehens zu partizipieren. Die Kunstausbildung sollte deshalb die Studierenden auch in die Kunst der schönen Form einführen. Doch nicht als Selbstzweck, denn wenn man schon die Sprache (also Form) gefunden hat, mit der man jemanden zum Zuhören verführen kann, dann sollte man auch etwas sagen. Kunst muss zumindest für einen Teil der Gesellschaft einen wie auch immer gearteten Mehrwert bedeuten - und sie hat diese Möglichkeit auch. Denn Künstler dürfen nie vergessen, dass sie ein Teil dieser Welt sind - nicht besser als all die Nicht-Künstler, aber auch nicht schlechter. Auch das sollte eine Kunstausbildung vermitteln.
Samuel Herzog, NZZ-Redaktor, Dozent ZHdK und Santa Lemusa Importeur.

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