DRUNTER UND DRÜBER

drunter und drüber
Rochus Lussi Ausstellung Galerie Vitrine Luzern 2024

Für die Ausstellung «drunter und drüber» sind neue Arbeiten entstanden, die mehrdeutig
gelesen werden können. Einerseits schlüpfen wir unter die Haut, unsere eigene oder
die des anderen Menschen, um uns in ihn zu versetzen. Wir werden zur Protagonistin,
zum Protagonisten und bedienen uns der Rollenvielfalt. In unserer Haut spielen wir
eine Rolle, fühlen uns geschützt durch diese Membrane. Eine zweite Haut, wie bei der
Arbeit «belle Ile», kann uns vor Einflüssen oder Bedrohungen schützen, oder aber sie
unter-stützt uns im wahrsten Sinne des Wortes in der Heilung. In dieser Arbeit geht Lussi
der Frage nach, welche Legitimation in der Natur des Menschen liegt, Leid zuzufügen,
welche Gewalt in uns steckt und wie und unter welchen Umständen sie aktiviert
wird. In welchen Rollen sind wir Jäger oder Gejagte? In einer weiteren Deutung des
Ausstellungstitels nehmen wir die Haltung ausserhalb unserer Haut, unserer Rolle ein.
Unter vielen politischen, gesellschaftlichen und sozialen Bedingungen sehen wir zu
wie unsere Rolle gespielt wird. Wir werden Teil der Öffentlichkeit und des sozialen Gefüges.
Mit dem «in der Haut stecken» oder «ausserhalb unseres Selbst sein» stellt sich
die Frage nach Täter und Opfer, mit der sich Rochus Lussi in seiner Arbeit seit langem
auseinandersetzt. Auch kann die Deutung des Titels darin bestehen, wie wir aus der
Haut fahren, uns vergessen und unter Umständen Chaos veranstalten, so dass alles
drunter und drüber geht. Bei der Arbeit «roll on» versinnbildlicht sich das Spannungsfeld
zwischen der vergnüglichen Verspieltheit dieses Herdentieres und der vorprogrammierten
Gefahr, dass alles drunter und drüber kommt. In allen Beiträgen dieser
Ausstellung ist der Mensch präsent, aber nicht sichtbar, die Protagonisten können aber
durchaus als Transformatoren für den Menschen stehen.
«drunter und drüber» 2023 / 15-teilig / je 40 cm / Holz blattvergoldet
In der Arbeit «drunter und drüber» beschäftigt sich Rochus Lussi mit den sozialen und
gesellschaftlichen Bedingungen unserer Zeit. Diese Arbeit, aber auch die Arbeiten der
ganzen Ausstellung sind Versuchsanordnungen, die Ideologien, soziale Normen und
Verhaltensmuster sichtbar machen und uns drunter, in der Rolle des Protagonisten, oder
drüber, als seine Rolle Betrachtenden inne zu haben. Dafür geht er auf Spurensuche
nach Äusserungen, Gesten und Bilder, die er aus inneren und äusseren Geschichten, in
den Medien und im öffentlichen Raum findet und verdichtet sie zu Miniaturen, oder
Trophäen aktueller gesellschaftlicher Krisen. Im Zentrum steht die Frage nach Täter und
Opfer, oder etwas sachter angegangen, wie uns vorgegebene Rollenbilder beeinflussen
und wann wir bereit sind, angesichts von Unterdrückung, Ohnmacht und Manipulation
Grenzen zu überschreiten und gesellschaftliche Muster aktiv zu verändern. Die 15-teilige
Gruppe ist aus dem gleichen Holz geschnitten. Durch die Blattvergoldung werden
die Rollen erhoben ins Ikonografische, alle sind sie aber gleich in ihrer Wertigkeit.
«roll on» 2023 / 17-teilig / je 40-45 cm hoch / Holz in Farbe gefasst
Die Arbeit versetzt uns in unserer Erinnerung in die Kindheit, lässt uns aber aufhorchen
was das Lamm in dieser Rolle inne hat. Das Lamm Gottes, oder das Lamm als dümmliches
Herdentier, das dem Leitschaf folgt wohin auch immer, selbst über die Klippe mitspringt.
Oder das Lamm als Opfer des bösen Wolfes. In der Installation «roll on» rollen
die Lämmer Gefahr drunter und drüber zu geraten, sollten sie sich nicht im Griff haben,
ob ihrem inneren Trieb. Dieser Verweis kann auf unsere momentane politische und gesellschaftliche
Situation anspielen, einem gefährlichen, frohsinnigen und gelassenen
Rollen-Balance-Akt zugleich.
«Umhang» 2024 / 140 cm x 30 x 30 cm / Holz in Farbe gefasst
Wie eine zweite, dicke und schwere Haut schützt dieser Umhang die Hirtin, den Hirten
vor etwelchen Einflüssen. Der Künstler stellt sich die Frage, inwieweit diese gute Hirtin,
dieser gute Hirte die Lämmer beschützen kann ob der drohenden Gefahr von politischer,
sozialer und gesellschaftlicher Manipulation und Gewalt.
«belle Ile» 2023 / 18-teilig / verschiedene Grössen / Holz in Farbe gefasst
25-teilige Installation / 2022 / Holz in Farbe gefasst / ca. 4 x 4 Meter
Mit der jüngsten Arbeit «Belle Ile» (2022) schliesst sich der Reigen und ebnet
gleichzeitig neue Wege: Es ist eine Wand-Boden-Installation, deren allesamt in
Weiss gehaltenen Objekte sich durch Reduktion, Abstraktion und Vielfalt auszeichnen.
Lussi charakterisiert seine Installation als «verwildert». Sie umfasst 25 in ihrer
Detailausführung verschiedene Objekte, die zwei Gruppen zuzuordnen sind: den
«Wesen» und den «Schalen». Die «Wesen» – so etwa die Vogel- und die Wolfswesen
– sind Skulpturen von starker formaler Reduktion und ergreifendem Ausdruck.
Dargestellt sind Wesen auf der Grundlage von Erinnerungsbildern liegender, überfahrener
und geschundener Tiere, denen Lussi auf seinen Reisen begegnet ist. In ihrer
expressiven Haltung und zum Teil unfertig aus dem Holz geschaffen, wirken
diese Tierwesen wie in einem Dämmerzustand. Schlafen sie? Sind sie tot? Sie scheinen
zu ruhen oder vielleicht zu genesen. Die Protagonistinnen der Gruppe «Schalen
» sind hölzerne Skulpturen, die Schalen von Körperteilen darstellen. Sie erscheinen
wie schützende oder stützende Schichten, die sich etwa über ein Bein oder einen
Arm legen. Das Kernstück der Arbeit ist ein Objekt, das, zur Schicht geformt,
den Bauch einer Schwangeren in überdimensionaler Grösse darstellt. Auf der Basis
eines Gipsabdrucks des Originalbauchs entstanden, versinnbildlicht die Membran
die Lebensschicht, die das werdende Leben umfasst, schützt und hervorbringt.
Dr. Brigitte Moser, Zug (Beitrag von Brigitte Moser nur zu «belle Ile»)
Stans, 24. November 2023 Rochus Lussi